Gibt es den Tag X? Wie oft habe ich mich das schon gefragt. Wann hat das bloß alles begonnen? Irgendwann fällt dir auf, dass etwas anders ist. Du kannst es nicht fassen oder gar beschreiben. Es rinnt dir förmlich durch die Finger. Und doch spürst du ganz deutlich: Hier stimmt etwas nicht. Im Rückblick, siehst du klarer, aber erst später, viel, später, wenn die Dinge bereits ihren Lauf genommen haben, wenn das Vergessen sich schon breit gemacht hat, dann weißt du, es ist Alzheimer.
Mein Vater hat Alzheimer. Die Diagnose steht seit circa eineinhalb Jahren und die Krankheit schreitet schnell voran. Gerade erst haben wir seinen 70ten Geburtstag gefeiert mit Familie und Freunden – alle waren sie da und einmal mehr wurde mir bewusst: Papa, du bist zu jung für diese Krankheit. Vor rund zwei Jahren haben wir noch herzhaft politisiert. Saßen im Sommer bis spätnachts im Garten und führten endlose Gespräche. Und heute sitzt du hier, an deinem 70ten Geburtstag, dein Blick fällt ins Leere und du begreifst nicht wirklich, was hier und heute passiert. Bei diesem Anblick zerreißt es mir das Herz. Und doch … was soll man tun? Verzweifeln? Damit wäre niemandem geholfen. Wir haben keine Wahl, deshalb nehmen wir es, wie es ist. Wir versuchen es zumindest, denn die Tatsache ist: Mein Vater ist 70 Jahre alt und dement.
Wer hat schon wieder meinen Schlüssel verlegt?
Leise, ganz leise hat sich das Vergessen in unser Leben geschlichen. Zunächst war es nur der verlegte Schlüssel oder der Regenschirm, der einfach nirgendwo zu finden war. Dann waren es die Verabredungen von gestern, die heute schon wieder vergessen waren. An diesem Punkt wurde es auf einmal laut, sehr laut, denn mein Vater, der intelligente Mann, der als Geschäftsführer sein Leben lang erfolgreich Menschen führte und mit Zahlen jonglierte, der ein weltweit tätiges Unternehmen leitete, der vergisst nichts. Punkt.
Schuld waren immer die anderen. Ganz klar, dass uns dieser Vorwurf auch nicht gerade mit Freude erfüllte, schließlich hatten wir Recht und forderten dieses Recht auch ein. Doch mein Vater duldete sein Leben lang keinen Widerspruch, warum also jetzt. Streit war vorprogrammiert und den gab es nicht nur einmal. Und fast immer wurde es dabei laut.
Wo geht’s lang?
Irgendwann kommen dann Orientierungsschwierigkeiten dazu. Plötzlich findet mein Vater die Haustüre nicht mehr. Er läuft ins Schlafzimmer, ins Bad und steht dann einfach so da, starrt vor sich hin. Auf die Frage „Was ist los, kann ich dir helfen?“, kommt nur ein schroffes „Nein, alles okay“, zurück und er steht weiter da, läuft doch wieder in Schlafzimmer, ins Bad und zurück. Schließlich mache ich die Wohnungstür auf und gehe hinaus. Er geht hinterher und tut, als ob nichts wäre. Der Versuch, ihn kurze Zeit später auf die Situation anzusprechen, endet im Streit. Wieder einmal.
Und nicht nur er weiß nicht mehr, wo es langgeht. Auch wir beginnen die Orientierung zu verlieren. Was ist richtig, was ist falsch? Wir wissen es nicht. Sollen wir das Thema offensiv angehen und noch einen Streit riskieren? Oder sollen wir schweigen und ihn einfach begleiten, auf seinem Weg, der für uns alle nicht einfach wird? Es hat eine Weile gedauert und war mit vielen aufreibenden Gesprächen verbunden, doch wir haben schließlich einen Weg gefunden. Und das ist die Aufgabe, die jedes Paar, jede Familie, jede Partnerschaft für sich alleine herausfinden muss, denn so individuell wie diese Krankheit, so individuell ist auch der Umgang mit ihr.