Diagnose Demenz. Die Welt steht still. Alles dreht sich um dich. Deine Partner*in, deine Mutter oder dein Vater, Oma oder Opa werden bald verschwinden. Ihr Geist verabschiedet sich und du stehst dem Ganzen hilflos gegenüber. Hilfslosigkeit. Ein geliebter Mensch ist krank. Du wirst ihn verlieren und du kannst nichts dagegen tun. Machtlosigkeit. Da muss man doch wütend werden. Du willst schreien, toben, weinen. Was ist das nur für eine Ungerechtigkeit.
Doch wie sieht es eigentlich auf der anderen Seite aus, auf der anderen Seite der Wut?
Heute möchte ich nicht uns Angehörige in den Fokus stellen. Um uns geht es nicht. Ja, doch. Vielleicht geht es auch um uns. Aber eigentlich sollte doch der Mensch, der gerade diese Diagnose erhalten hat, im Fokus stehen. Also die andere Seite der Wut. Und doch dreht sich viel zu oft alles um uns selbst und gerade das ist es, dieser ständige Fokus auf uns selbst, was die Verbindung zum Menschen mit Demenz so gravierend stört.
Lass deine Wut los
Gleich zu Beginn der Erkrankung meines Vaters, habe ich beschlossen: Ich werde lernen, mit allem was kommt umzugehen. Es gibt keine Alternative dazu. Und Verzweiflung oder gar Wut hilft niemandem von uns weiter. Mir nicht und auch meinem Vater nicht.
Dann begann ich mich darauf einzulassen, auf die andere Seite, auf die Seite meines Vaters und kam dabei schneller als mir recht war, mit einer Wut in Kontakt, die mich noch vor viele Herausforderungen stellen würde. Damals ahnte ich es noch nicht … doch es war gut mich darauf einzulassen, auf die andere Seite, auf die Seite meines Vaters, auf seine neue Lebenswelt und damit auch auf seine Wut, die sich im Verlauf der Erkrankung immer deutlicher zeigte.
Zu Anfang, als er sich noch mitteilen konnte und als er unsere Worte noch verstand, spielte sich alles in einem Rahmen ab, in dem es um verlegte Dinge ging, die natürlich immer wir verlegt hatten. Mein Vater nicht. Ich gab ihm Recht, entschuldige mich und bat ihn, mir bei Suchen zu helfen. Damit war die Situation schnell erledigt und der Schlüssel oder was auch immer rasch wieder gefunden. Wäre ich wütend geworden – und ich hätte ja vielleicht sogar das Recht dazu gehabt, denn ich hab den Schlüssel ja nicht verlegt und wurde von ihm zu Unrecht beschuldigt –, dann wären wir nicht von der Stelle gekommen. Vermutlich hätte es im Streit geendet. Den Schlüssel hätten wir wohl nicht gefunden.
Drei Ur-Instinkte: Erstarren, Flüchten, Kämpfen
Im weiteren Verlauf seiner Alzheimer-Erkrankung verstärkte sich die Wut meines Vaters und mündete in Aggressionen gegen andere, gegen uns. So emotional verletzend, das für uns als Angehörige war, so sehr habe ich versucht, das WARUM zu verstehen.
Die Antwort lieferte mir intensive Literatur und das Verständnis um die drei Ur-Instinkte, die sich dann zeigen, wenn der Mensch Angst verspürt:
- Erstarren
- Flüchten
- Kämpfen
Kennst du das auch: Deine Angehöriger*e läuft rastlos in der Wohnung umher. Sie läuft und läuft und läuft. Am Essenstisch ist es ihr kaum möglich, sitzen zu bleiben. Irgendeine innere Unruhe treibt sie um. Das ist die Angst, die Angst vor all dem, was gerade mit ihr geschieht. Ihre Reaktion ist die Flucht, die Flucht vor dieser Situation und sie zeigt sich im endlosen Laufen.
Andere werden immer antriebsloser, sitzen irgendwann nur noch rum. Das ist die Angst, ihre Angst vor all dem, was gerade mit ihnen passiert und was sie nicht verstehen können. All das macht ihr so große Angst, dass sie erstarren. „Regungslos vor Angst“. Vielleicht kennst du das ja auch.
Und dann gibt es die Kämpfer. Die sich aus jeder Situation selbst befreien möchten. Normalerweise schaffen sie das mit Worten. Doch auf einmal versteht sie keiner mehr. Das macht sie wütend. SO wütend. Und genau so ein Kämpfer ist mein Vater.
Mein Wunsch nach Verständnis für diese Wut war und ist groß. Doch vielen fällt genau das gerade im Zusammenhang mit Wut oder Aggression enorm schwer. Die Aggression klebt wie ein Stigma auf diesem Menschen und es wird viel zu oft nicht mehr versucht, als ihn oder sie mit Medikamenten ruhigzustellen. Auf einmal steht über all dem die Forderung der medikamentösen Einstellung. Anstelle sich mit der Wut auseinanderzusetzen, wird sie ruhiggestellt. Ist sie damit verschwunden? Ich glaube kaum. Was ich allerdings weiß, diese Medikamente machen den Mensch mit Alzheimer vollends kaputt. Das muss doch anders gehen. Das geht anders. Ich weiß es, aber es ist mühevoll. Es erfordert Durchhaltevermögen, Mut und Kraft. Wie einfach und verlockend scheint da die medikamentöse Einstellung.
Wie fühlt sie sich an – die andere Seite der Wut?
Man stelle sich doch einmal vor, alles um einen herum verschwimmt, ist verwirrend laut oder auch erschreckend leise. Man hört die anderen sprechen, aber versteht ihre Worte nicht mehr.
„Was wollen die von mir? Du lieber Himmel, jetzt gehen sie mir auch noch an die Wäsche. Hemd aus Unterhose runter. Waschen. Duschen. Was bedeutet das? Weg, geh weg. Ich will weg. Lass mich doch in Ruhe. Nein. Ich will das nicht. Ich schlage dich, trete, beiße … Lass mich. Ich kämpfe. Ich kämpfe für mich und meine Ruhe.“
Das ist sie, die andere Seite der Wut. Die Wut, die ich immer versucht habe zu verstehen und dabei meine eigenen auf mich bezogenen Emotionen versucht habe, stets in den Hintergrund zu stellen. Mir schien es, dass dies der einzige Weg sei, um ein Miteinander zu ermöglichen. Und dabei wurden gleichzeitig so viel Gefühle frei, die es möglich gemacht haben, mit meinem Vater in Kontakt zu treten. Trotz Demenz. Trotz Alzheimer.
Aushalten lernen
Das ist die Wut, von der ich mir wünsche, dass mehr Menschen sie sehen und aushalten können, die Wut, von der ich mir wünsche, dass mehr Menschen versuchen, damit umzugehen. Das ist diese andere Seite der Wut, von der ich mir wünsche, dass man sie nicht, wie allgemein üblich, in Neuroleptika oder Antidepressiva ertränkt.
Das ist die Wut, von der ich mir wünsche, dass wir sie alle annehmen lernen. Das ist die Wut, um die es eigentlich gehen muss. Nicht um die unsere, die jegliche Verbindung zu dem geliebten Menschen verhindert, der sich gerade selbst verliert.