Alzheimer ist immer für eine Überraschung gut. In diesem Fall ist es nicht mein Vater, der für die Überraschung sorgte (naja, indirekt vielleicht schon). Auch andere sind gut im Überraschungen machen.
Was ist passiert? Freitag später Nachmittag, das Telefon klingelt. Ich geh ran, am anderen Ende der Leitung spricht die Sozialstation, die täglich morgens zu uns kommt, um meiner Mutter und Maria, unsere 24-Stunden-Kraft, beim Duschen, Waschen und Umkleiden meines Vaters zu helfen. Man verkündet mir: „Wir können die Pflege Ihres Vaters nicht mehr übernehmen. Sie verstehen sicher. Wir müssen uns schützen.“
„Nein ich verstehe nicht“, antworte ich. „Was ist passiert“. Am anderen Ende der Telefonleitung windet man sich. Erklärt mir, mein Vater wäre bei der Pflege so aggressiv. Ja, das ist er, aber das wissen wir alle ja schon länger. Dabei muss ich dazu sagen, dass man mich erst kürzlich angerufen hat und mir erklärt hat, dass im Moment so eine hohe Nachfrage herrscht, der sie bei der Sozialstation kaum nachkommen können. Deshalb hat man die Abendpflege meines Vaters auf 22 Uhr verschieben müssen. Wir haben dann abgesagt, da Maria und meine Mutter das auch allein hinbekommen. Außerdem, wer möchte schon bis 22 Uhr warten.
Sachlich wenngleich schäumen vor Ärger frage ich die Dame am Telefon, ob sie denn keine anderen Lösungsvorschläge hätte als uns abzusagen? Wir sind ja nun in der komfortablen Lage, dass bei uns eine 24-Stunden-Kraft arbeitet und wir über kurz oder lang, die Unterstützung der Sozialstation nicht mehr gebraucht hätten. Aber was macht die alte Frau, die mit ihrem Mann allein zuhause ist und auf die Unterstützung durch einen Pflegedienst angewiesen ist. „Wenn Sie (der Pflegedienst) dieser Frau, so wie mir jetzt am Telefon absagen, was macht diese Frau dann? Sie lassen diese Frau allein in ihrem Elend und haben allen Ernstes keinen anderen Lösungsvorschlag.“ Ich war und bin entsetzt.
Der schwierige Patient rechnet sich nicht
Natürlich habe ich schnell durchschaut, dass dahinter wirtschaftliche Belange stehen. Der aggressive Patient rechnet sich nicht mehr, wenn ansonsten die Nachfrage stimmt. Die Sozialisation ist ausgelastet. Mehraufwand, kostet mehr und lohnt sich nicht. Und mein Vater bedeutet Mehraufwand, denn er benötigt zum einen mehr Zeit und zum anderen speziell geschulte Pflegekräfte. Warum ist das nicht möglich spezielle Pflegekräfte für Alzheimerpatienten mit Verhaltensauffälligkeiten (wie beispielsweise Aggressionen) auch in der ambulanten Pflege zu organisieren? Eine Tour ohne Zeitdruck und mit nur wenig unterschiedlichen Pflegekräften, damit sich der kranke Mensch an nur wenig wechselnde Gesichter gewöhnen muss. In Holland funktioniert das doch auch. Dort heißt das System Buurtzorg, was übersetzt Nachbarschaftshilfe bedeutet. Wenige Pflegekräfte kümmern sich um wenige Kranke – ohne Zeitdruck. Und das Beste: Es rechnet sich – auch wirtschaftlich. In einem Artikel im Online-Magazin 59plus schreibe ich detaillierte darüber. Wenn euch das Thema interessiert, dann lest hier weiter: Buurtzorg – das innovative Pflegemodell aus Holland.
Dann kam die Dame vom Pflegedienst doch aus der Deckung. Ihr Lösungsvorschlag sei die Einweisung in die Klinik und die medikamentöse Einstellung. Allmählich werde ich richtige wütend. Lang und breit habe ich allen, wirklich allen, erklärt, warum das bei meinem Vater so schwierig ist. Er verträgt viele Medikamente nicht, zeigt starke Nebenwirkungen. Zudem ist das für mich eine viel zu einfach Lösung. Dann stellen wir den kranken Menschen einfach mal medikamentös ein. Frei übersetzt bedeutet das für mich: Wir stellen ihn ruhig. Und wenn das nicht klappt, dann kündigen wir als Pflegedienst die Versorgung einfach. Problem gelöst. Betroffener allein.
Zum Wohle des Patienten
Die Dame vom Pflegedienst und ich reden weiter. Sie erklärt mir, dass für sie nur die Ruhigstellung des Patienten mit Hilfe von Medikamenten in Frage kommt. Ich stelle die Frage, warum man nicht erstmal andere Wege versuche. Vielleicht die Umgebungsstimmung ändern mit Musik oder einen besonderen Duft. Gemeinsam könnte man das doch mal probieren. Tja, leider ist dafür keine Zeit da. Oder man könne zum Beispiel den aggressiven Patienten kurz an den Händen festhalten. So kann er die Pflegekraft nicht schlagen und gleichzeitig federt das Halten die Aggression in wenigen Sekunden ab. Sie erklärt mir, dass die Pflegekräfte nichts tun dürfen, was der Patient nicht möchte. Aha, das verstehe ich natürlich. Blöd nur, dass die nasse oder eingestuhlte Windel eben einfach gewechselt werden muss, ob der Patient nun möchte oder nicht. Provokant frage ich dann noch einmal nach: „Also Pflegekräfte machen nichts, was der Patient nicht möchte? Und Sie sind sicher, dass der Patient mit Medikamenten vollgepumpt werden möchte?“ Leider bekomme ich keine Antwort…
Ich bin entsetzt, dass der Profi keine Lösung hat. Ich bin entsetzt, dass hier niemand versucht, auf die Belange des Kranken wirklich einzugehen. Sobald es schwierig wird, streicht man die Segel. Ist das unser Pflegesystem? Offensichtlich. Was wäre, wenn wir finanziell nicht in der Lage wären, eine 24-Stunden-Kraft zu beschäftigen? Mir graut bei dem Gedanken. Das kann doch nicht sein, dass man dann alleingelassen wird. Doch ist so. Leider. Und weitergedacht … der verhaltensauffällige Alzheimer-Kranke wird in unserem System also neu eingestellt solange bis er ruhig genug ist, dass er die Pflege über sich ergehen lässt. Das bedeutet dann aber im Extremfall, dass dieser kranke Mensch fortan im Delirium durch den Tag geht. Von dem Wenigen, dass er noch mitbekommt, wird ihm der letzte Rest auch noch genommen. Wer als Angehöriger zu diesem Schritt nicht bereit ist, muss sich selber helfen oder ihm bleibt nur noch das Heim. Würde also so eine alten Frau, die ihren an Alzheimer erkrankten aggressiven Mann pflegt, nicht wollen, dass ihr Mann noch mehr Medikamente bekommt, dann würde ihr die Unterstützung durch den Pflegedienst untersagt werden. Ihr bliebe dann wahrscheinlich nur noch die eine Möglichkeit: Sie müsste ihren Mann ins Pflegeheim bringen, ob sie will oder nicht.
Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen…
Klar kann man sagen, wenn die häusliche Pflege nicht mehr funktioniert, dann ist das Heim die Beste Lösung – wahrscheinlich. Aber die häusliche Pflege könnte ja funktionieren, wenn das System ein anderes wäre. Unser System ist allerdings schlussendlich drauf ausgerichtet, das wirtschaftlich beste Ergebnis zu erzielen – und somit landet dieser kranke Mensch dann im Altersheim und rechnet sich plötzlich wieder. Doch wo führt das hin? Die Heime sind auch überfüllt? Und die Alten werden immer mehr. Da wäre es in einen Augen viel sinnvoller, das häusliche Pflegeprogramm auszubauen – und wenn man es intelligent anstellt, wird es auch wieder wirtschaftlich. So hätten alle etwas davon. Doch ich habe den Eindruck, man ruht sich im alten System aus, verschließt Auge und Ohren. Es hat ja bisher alles funktioniert. Man lässt dabei aber außer Acht, dass die Menschheit immer älter wird und dass damit auch das Problem Alzheimer (mit oder ohne Verhaltensauffälligkeiten) immer größer wird. Ich habe den Eindruck, es ist wie überall – irgendwann überrollt einen das Problem, das man schon lange hat kommen sehen. Und dann wird geklagt: Oh weh, oh weh – wie konnte das nur passieren?
Zugegebenermaßen – in den Medien wird viel diskutiert, auch in der Politik. Es scheint, dass man sich diesem Problem annimmt. Doch wenn an der Basis so damit umgegangen wird, dann kann ich nur sagen: Gute Nacht. Bis sich hier wirklich was ändert, können noch Jahre vergehen. Und dabei bin ich selbst mit so vielen tollen Menschen im Austausch. Sie alle haben mir wertvolle Tipps im Umgang mit dieser Krankheit gegeben. Die Ideen sind da, doch sie werden noch nicht wirklich nachhaltig aufgegriffen. Und wenn ich hier direkt vor Ort, nicht ebensolche Menschen antreffe, dann bin ich allein. Das System der Pflegeeinrichtungen ruht sich auf der Hilflosigkeit der Betroffenen aus, trägt sogar seinen Nutzen daraus. Nicht ganz im Wortlaut, aber sinngemäß das hat neulich eine Expertin auf dem Gebiet Demenz zu mir gesagt. Damals verstand ich noch nicht richtig. Heute tue ich es.
Es wird nicht einfacher
Zuhause wird es für uns zudem auch nicht einfacher. Wir alle sind an der Belastungsgrenze. Maria hat eine kurze Entspannung gebracht, aber diese Absage durch den Pflegedienst verschärft die Situation natürlich wieder. Zudem ist man als Angehöriger nach so einem Anruf natürlich verunsichert. Fragen tauchen auf … Muss ich meinen Vater doch noch einmal in die Klinik bringen. Würde ihm eine verändert Medikation eventuell doch helfen? Oder verpasse ich ihm einen unnötigen Cocktail? Was ist zu tun? Micha und ich sind die Situation ganz pragmatisch angegangen. Wir haben mal wieder die Pflege meines Vaters übernommen, um zu sehen, ob sich an seinem Verhalten etwas verändert hat. Mit uns läuft es problemlos, eben in dem Rahmen wie immer. Wir sehen keine Veränderung. Vielleicht ist er insgesamt den Tag über wieder etwas unruhiger geworden? Vielleicht auch nicht? Mag sein, wir bilden uns das ein. Tja, was tun? Wir haben beschlossen noch ein paar Tage/Wochen zu beobachten, verändert sich was, hat sich was verändert oder haben wir uns nur durch diesen unsäglichen Anruf verunsichern lassen. Selbstredend ist auch Maria nun verunsichert. Wird sie bleiben? Wir wissen es nicht. Die Zeit wird es zeigen. Und dann gilt es neu zu entscheiden.
Das Problem Pflege
Dennoch möchte ich an dieser Stelle noch einmal auch meine Hochachtung aussprechen vor all den Menschen, die in der Pflege arbeiten. Nein, an den Pflegekräften liegt es nicht. Sie tun ihr möglichstes und sind ebenfalls einem System unterworfen, das an allen Ecken krankt.