77. Nähe ist ein Gefühl

Nähe, was bedeutet eigentlich Nähe? Kann ich einem Menschen nah sein, wenn ich doch räumlich von ihm getrennt bin? Oder bin ich einem Menschen wirklich nah, mit dem ich mich im selben Raum befinde? Also was ist NÄHE?

Nähe ist für mich ein Gefühl, eine Verbundenheit, die nicht unbedingt von außen direkt erkennbar sein muss. Mein Papa hat seit 2016 Alzheimer. Da könnten viele meinen, dass diese Krankheit des Vergessens uns trennt, uns immer mehr voneinander entfernt. Schließlich vergisst er mich doch. Aber nein, so ist es nicht. In diesen Jahren hatte und habe ich das Gefühl, dass ich meinem Papa genauso nah bin oder vielleicht sogar noch näher als zuvor.

Wenn alles zusammenzubrechen droht

Woran mache ich das fest? Oh, das sind viele Dinge und Momente. Vielleicht erzähle ich euch von einem dieser Momente, die mich noch bis heute bewegen und erfüllen. Es war Weihnachten 2018. Das letzte Weihnachten, das mein Papa zuhause verbringen sollte.

Die Umstände waren schlecht. Um uns schien alles zusammenzubrechen. Im Herbst war mein Hund Paule gestorben, auch das riss noch ein großes Loch in mein Herz. Außerdem kam der Pflegedienst nicht mit meinem Papa zurecht. Seine Aggressionen den Pflegekräften gegenüber nahmen sich immer mehr Raum. Gleichzeitig nahm diese Situation meinen Mann und vor allem mich, immer mehr in die Pflicht. Mit uns beiden lief es bei der Körperpflege meines Papas am besten und so übernahmen wir den Part sehr oft.

Das Abenteuer 24-Stunden-Kraft schien auch zu scheitern, denn sie war einfach nicht dir Richtige für uns. Der einzige Lichtblick damals: unsere Haushaltshilfe. Sie hatte einen sehr guten Zugang zu meinem Vater und konnte uns entlasten, aber sie war nur am Vormittag da. Am Wochenende nicht und auch an Weihnachten fuhr sie nach Rumänien, zu ihrer Familie. So war es also an uns, an meinem Mann und mir. Und was eigentlich Anspannung erwarten lies wurde zu vielen wunderbaren Momenten der Nähe.

Weihnachtliche Nähe

An diese 14 Tage Weihnachtsurlaub erinnere ich mich so gerne zurück. Mein Mann hatte Urlaub und ich hab mir auch viel Zeit genommen. So konnten wir das Thema Körperpflege ohne Zeitdruck „erledigen“. Und es lief alles so entspannt, geräusch- und problemlos ab. An manchen Tagen hat sich meine Vater nach dem Duschen und Anziehen sogar bei mir bedankt.

In dieser Zeit sind wir dann auch fast jeden Abend bei meinen Eltern gewesen – wir wohnen ja im selben Haus – haben zusammen Fernsehen geschaut oder auch mal alte Fotoalben durchgeblättert. Häufig saß mein Papa bei uns auf der Couch. Eigentlich hat er einen eigenen Sessel, in dem er immer, wirklich immer, saß. Auf der Couch saß er nie. Aber in dieser Zeit hat er oft die Nähe von mir und meinem Mann gesucht. So saßen wir also zu viert auf der Couch. Mein Mann, ich, mein Papa und bei Papa lag dann meine Hündin und ließ sich von ihm graulen. Das tat beiden gut.

Dieses Bild ist am 2. Weihnachtstag 2018 entstanden:

Das waren so wundervolle vierzehn Tage und ich möchte keinen Moment davon missen. Alles war so harmonisch und ich denke noch oft daran zurück. Oft wehmütig, weil es doch unser letztes gemeinsame Weihnachten in unserem Haus war. Aber die meiste Zeit überwiegt die Dankbarkeit und die Freude darüber, dass wir noch einmal eine solche Nähe und so viele schöne Momente zusammen erleben durften.

Erkenne und genieße den Moment

Und auch heut, drei Jahre später spüre und erlebe ich immer noch so viel Nähe. Anders, aber nicht weniger intensiv.

  • Zum Beispiel die vielen Nachmittag, die wir im Sommer zusammen auf seiner Terrasse im Heim sitzen und einfach die Wärme genießen.
  • Oder die winterlichen Momente im Wintergarten des Pflegeheims, wenn ich unsere Musik laufen lasse und die Menschen an den Nebentischen sich ebenfalls darüber freuen.
  • Wenn mein Papa mich anlächelt, weil er in einem Moment mein Gesicht oder vielleicht auch nur meine Stimme erkennt.
  • Wenn er seine Hand hebt und meine Wange streichelt.
  • Wenn wir uns an den Händen halten und zu seiner Musik schunkeln.
  • Wenn ich ihn in den Arm nehme und er, ohne dass ich etwas zu ihm sage, einfach zu erzählen beginnt. Irgendwas, der Inhalt des Gesprochenen ist egal, er spricht, ruhig oder freudig und scheint die Umarmung zu genießen.
  • Wenn ich bei meinem Papa bin, einfach im Moment, das Drumherum und die Hektik des Alltags vergesse, sondern einfach nur bin. Ich und Papa.

Das sind meine vielen Moment der Nähe – und ich genieße sie!

Deshalb möchte ich nicht traurig sein, ich möchte nicht klagen über den Verlust einer vermeintlichen Nähe durch die Alzheimer oder auch durch dieses jämmerlich Virus. Ja, wir bleiben oft auf räumlicher Distanz und sind uns doch in unseren Herzen so nah – so tief miteinander verwoben und verbunden. Diese Nähe kann uns niemand, kein Alzheimer, keine räumliche Trennung, weil mein Papa jetzt in einem Pflegeheim lebt, und auch kein Corona-Virus nehmen.

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