28. Eskalation

„Tani komm schnell, da unten ist der Teufel los.“ Mit diesen Worten stürmt Micha zur Wohnungstüre herein. Im Treppenhaus hallt mir das Drama bereits entgegen. Mutter schreit, kreischt und zetert. Von Papa ist nix zu hören. Micha und ich rein in die Wohnung meiner Eltern und da zeigt sich das Dilemma schon. Ein total aufgebrachter Vater, schimpfend und fluchend steht er nur in Unterwäsche bekleidet im Bad und zittert dabei am ganzen Leib. Ich nehm ihn erst mal in den Arm. Mutter rennt kreischend und weinend durch die Wohnung. Wieder einmal hat er nach ihr geschlagen und getreten. Maria unsere 24-Stunden-Kraft steht stumm daneben. Micha und ich übernehmen das Anziehen meines Vaters und es funktioniert reibungslos – ohne Wut, ohne Zorn, ohne Schlagen oder anderen Aggressionen. Still arbeiten wir uns Schicht für Schicht voran, mal schimpft er ein bisschen, nennt mich eine blöde Nuss und sagt, ich rede nur blödes Zeug. Ich antworte: „Das habe ich von dir“, und er kontert darauf: „Ja, das kann sein.“ Und wir lachen alle herzlich. Doch am Ende ist Papa angezogen und zufrieden.

Warum funktioniert das mit meiner Mutter nicht – frage ich mich immer wieder? Und bekomme schnell die Antwort. „Eine Dreiviertelstunde habt ihr jetzt wieder gebraucht“, meint sie aufgebracht. Ich antworte: „Na und.“ Und sie schaut mich mit großen Augen verständnislos an. Mein Mutter kann sich einfach nicht auf die Krankheit Alzheimer einlassen. Alles muss in ihrer Geschwindigkeit gehen. „Wenn er nur mitmachen würde, dann wäre alles viel einfacher,“ spricht sie weiter. Und mir wird immer klarer, das kann so nicht weitergehen. Diese absolute Unverständnis, der Krankheit gegenüber, laugt meine Mutter aus. Sie kommt mir vor wie ein Maikäfer, der auf dem Rücken liegt und zappelt. Unfähig sich in irgendeine Richtung zu bewegen. Sie ist maßlos enttäuscht darüber, dass ihr Mann nicht mehr funktioniert und schafft es schlichtweg nicht, sich auf seine Welt, seine Geschwindigkeit und seine Emotionen einzulassen.

So geht es nicht weiter, denn solche Situationen unbändiger und unkontrollierter Aggression inklusive Schlagen und Treten werden immer häufiger. Micha und ich sind nur noch damit beschäftigt Polizei zu spielen. Der Sozialdienst hat bereits die Biege gemacht und auch Maria wird nach nur 4 Wochen bei uns heute wieder die Heimreise antreten. Sie kommt nicht wieder. Was also tun? Diese ständige Aufeinanderprallen der beiden kostet Kraft und wird zudem allmählich gefährlich. Der Familienrat tagt und kommt zu dem schweren Entschluss. Zum Schutz von beiden, müssen wir Papa ins Altersheim bringen. Zuhause geht das nicht mehr. Der klare Menschenverstand lässt keine andere Entscheidung zu.

Bedürfnisse erspüren

Gleichzeitig ist es mir nach wie vor ein Rätsel, warum meine Mutter einfach nicht kapieren möchte. Ja, es ist schwer seinen Ehemann so zu sehen, aber es ist auch schwer seinen Vater so zu sehen. Ich habe den Willen und Wunsch, das Beste für ihn zu tun. Versuche mich auf seine Welt einzulassen. Bin nicht traurig, wenn er mich nicht erkennt, sondern möchte ihm einfach dabei helfen, dass er, so gut es eben geht, glücklich und zufrieden in seiner verrückten Welt ist, aber eben so lange wie möglich in seinem Zuhause leben kann. Möchte ihm dabei helfen, dass er beim Umziehen oder Waschen keine Angst haben muss, die er notgedrungen mit Aggression beantwortet. Und was macht meine Mutter, sie schreit nur „Ich lass mich doch von ihm nicht andauernd schlagen.“ Zum gefühlt hunderttausendsten Mal erkläre ich ihr, dass er krank ist und wir (auch sie) ihm helfen müssen. Wir müssen uns auf seine Geschwindigkeit einlassen, seine Bedürfnisse erspüren. Dinge erkennen, die ihn vielleicht ängstigen und wir müssen versuchen, es immer und immer wieder besser zu machen. Zeit oder gar persönliche Enttäuschung darf dabei keine Rolle spielen.

NEIN und ABER

Und da sind wir schon am springenden Punkt. Meine Mutter und mein Vater könnten sich alle Zeit der Welt nehmen, bis er eben angezogen ist. Doch schwupp kommt die Ungeduld ins Spiel und schon ist sie da die ungeliebte Aggression und mit ihr die Enttäuschung. Ein Teufelskreis, ein Dilemma, eine Spirale, aus der meine Mutter nicht herauszukommen scheint. Sie setzt sich andauernd unter Zeitdruck, ist unzufrieden mit der Situation, mit der Ergebnis, wenn das Anziehen oder gar Duschen an einem Tag mal nicht so gut oder gar nicht klappt, ist wütend, dass er so „böse“ zu ihr ist. Meine Ratschläge kontert sie regelmäßig mit einem NEIN oder ABER. Nichts scheint ihr auch nur irgendwie machbar, außer zu Jammern. Jammer über Alzheimer, jammern über die Aggression, jammern, jammern, jammern. Der Vorschlag zum Psychotherapeuten zu gehen oder zu einer Alzheimer-Angehörigen Gruppe wird mit einem „Was soll ich denn da“ abgetan. Sie dreht sich im Kreis, ist überfordert und deshalb muss dieser klare Schnitt jetzt sein. So schwer es mir fällt. Wir müssen auch sie schützen.

Wie unsagbar gerne wüsste ich meinen Vater zuhause, aber wie soll das gehen? Ich habe schon überlegt, meinen Job zu reduzieren und Papa zu pflegen. Diesen Gedanken hab ich dann aber doch wieder verworfen. Ich bin selbstständig, ohne Kunden keine Aufträge, ohne Aufträge keine Einkommen. Wenn ich jetzt beruflich kürzertrete, dann bekomm ich in ein paar Jahren wahrscheinlich keinen Fuß mehr in die Tür. Wer weiß das schon. Und dann ist ja doch auch immer noch meine Mutter um uns rum und es ist leider so, sie bringt nicht selten auch diejenigen in Gefahr, die mit ihr zusammen meinen Vater pflegen. Sie ist es, auf die sich die Aggression meines Vaters hauptsächlich konzentriert. Sie kann mit seinen, auf den ersten Blick, absurden Aktionen nicht umgehen. Sie versteht das alles nicht und sie will es auch nicht verstehen. Und damit macht sie nicht nur meinen Vater, sondern auch das ganze Umfeld drumherum fertig. Micha und ich können ihr Gejammer nicht mehr hören. Ja, es ist leider so. Es belastet uns im Moment mehr, als die Alzheimer-Erkrankung meines Vaters an sich. Meine Mutter ist so festgefahren in ihrer Situation, immer am Wehklagen über ihr Dilemma und damit saugt sie uns geradezu aus. Wir sind leer.

Jammern hilft nicht

Allerdings sollte auch ich nicht ins Jammern kommen, vielmehr tut nun schnelle Hilfe Not. Einen Heimplatz mit einem beschützen Bereich (so nennt man die Heime für Demenzpatienten, die fluchtgefährdet sind – also gerne mal weglaufen) bekommt man nicht so schnell. Die Heimplätze sind rar und die Wartelisten lang. Doch zuhause geht es so nicht mehr. Also bleibt nur die Klinik und dort war man auch not amused über meinen Anruf. Bedeute Klinik doch immer eine mögliche Verschlechterung des Zustands. „Zudem,“ erklärt man mir dort „bedeute Alzheimer auch, dass sich das Umfeld auf den Kranken einlässt, ihm hilft … blablabla.“ Das weiß ich doch alles, aber was soll ich tun. Ein wirklich unangenehmes Gespräch, dass ich da führen musste. Erst als ich den Arzt freundlich (was mir, ehrlich gesagt, in diesem Moment sehr schwerfiel) darauf hinwies, dass er hier gerade von seinem Tagesgeschäft spricht, bei mir geht es aber um meinen Vater, hat er sich besonnen.

Also bringen wir meinen Vater wieder in die Klinik, zur erneuten medikamentösen Einstellung, von der ich ja so gar nichts halte. Doch es bleibt uns keine Wahl. Wie gesagt, einen Heimplatz bekommen wir so schnell nicht und zuhause geht es auch nicht mehr. Ich fühl mich schlecht. Wie ein Verräter – wieder mal. Und diese Gefühl wurde auch nicht besser, als ich ihn heute Morgen zusammen mit Ani, unserer Haushaltshilfe, anzog. Es klappte alles, ohne Aggression, ohne Wut, ohne Geschrei. Deshalb bricht es mir das Herz, bei dem Gedanken an die Klinik. Sollen wir das wirklich tun? Und ich habe keine andere Antwort als „Ja, wir müssen.“

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