55. Ich habe Angst

Angst ist ein schlechter Ratgeber, ich weiß. Und doch hält sie mich mit jeder Faser meines Körpers gefangen. Meinem Paps geht es schlecht, sehr schlecht. Und mit jedem Buchstaben, den ich hier schreibe, weiß ich nicht, ob er die Nacht überlebt.

Heute wollten wir ihn eigentlich besuchen – am Fenster. Wieder dieses unsägliche Fenster dazwischen, aber immerhin sehen können wir uns. Als ich anrufe, dass wir nachher kommen werden, sagen mir die Pflegekräfte, dass er schläft. Schon wieder. In den letzten Tagen schläft er viel. Und er wird dünner, immer dünner. Knapp 50 Kilo sagen sie mir wiegt er noch.

Vor 4 Wochen habe ich im Bericht des MDK – mein Vater wurde in Pflegegrad 5 hochgestuft – gelesen, dass er 59 Kilo wiegt. Ich schlage Alarm, nicht wissend, dass er bereits viel weniger wiegt. Da haben sie im Heim geschlafen. Das erst Mal. Aber sie haben geschlafen. Das darf nicht unbemerkt bleiben, dass ein Bewohner so massiv an Gewicht verliert. Ich versuche alles, damit er Zusatznahrung bekommt. Und stoße zunächst auf Widerstände. Das wird die Ärztin niemals verschreiben. Das bekommt er erst bei einem BMI von 17. Seiner läge noch bei 19. Die Berechnung des Wertes 19 beruhte aber fälschlicherweise auf Gewichtsangaben aus dem Februar. Man hatte ihn schichtweg länger nicht mehr gewogen. Ich bekomme die Zusatznahrung trotzdem von seiner Hausärztin verschrieben. Wieder ein Schlacht gewonnen. Doch vielleicht zu spät, denn Stand heute, nur knapp 4 Wochen später, wiegt mein Vater 49,5 Kilogramm.

Magensonde – ja oder nein?

Vergangene Woche dann der Anruf seiner Hausärztin und die Frage: „Haben Sie schon über eine Magensonde PEG nachgedacht?“ Ich bekomme Schnappatmung. Wie bitte. Vor 3 Wochen muss ich noch kämpfen für die hochkalorische Zusatznahrung und heute muss ich mir schon Gedanken über eine Magensonde machen? Und viel mehr noch: Würde mein Vater das wollen?

Da sitze ich nun und die Verzweiflung steht mir im Gesicht. Was soll ich tun? Wie entscheiden? Beim Blick in die Medikation meines Vaters fällt mir dann aber auf, dass er immer noch Schilddrüsenmedikamente bekommt. Oh Mann, auf der einen Seite Zusatznahrung, die dann auf der anderen Seite mit einem durch das Schilddrüsenmedikament beschleunigten Stoffwechsel ratzfatz wieder verstoffwechselt wird. So kann er ja nicht zunehmen. Also werden die Schilddrüsenmedis abgesetzt. Hoffentlich nimmt er zu. Heute eine Woche später ist noch nichts dergleichen passiert. Sein Gewicht weiter im Keller.

Ich kann nicht bei dir sein

Dann entwickelt er heute Nachmittag auch noch Fieber. 38 Grad. Und sowohl das Essen als auch das Trinken zum Nachmittagskaffee läuft ihm wieder aus dem Mund. Er schluckt es nicht. Schluckbeschwerden hat er wohl auch schon eine Weile, aber natürlich erst seit dem leidigen Besuchsverbot. Er baut wahnsinnig ab, seit wir ihn nicht mehr besuchen können. Da möchte man die Alten schützen. Was dieser Schutz aber mit der Psyche macht, daran denkt keiner. Doch. Die Pflegekräfte tun das. Immer wieder höre ich den Satz: „alle bauen ab“ oder „die Menschen streben an Einsamkeit“. Sie sterben an Einsamkeit? Macht sich mein Paps auch auf den Weg?

Oh nein, bitte nicht jetzt. Nicht während des Corona-Besuchsverbots! Ich bin verzweifelt. Normalerweise würde ich sofort losziehen, mich ans Bett meines Vaters setzen und seine Hand halten. Einfach bei ihm sein. Nun kann ich das nicht und fühle mich so hilflos. Stattdessen telefoniere ich mit Pflegekraft und Pflegedienstleitung. Die alle ihr Möglichstes tun und auch wirklich sehr einfühlsam sind. Wir unterhalten uns darüber, was passiert, wenn mein Paps nun seinen letzten Weg antritt. Auch das noch… Die Frage liegt wie ein tonnenschwerer Stein auf meinem Gemüt: Können wir ihn wenigstens dann begleiten? Ja, das geht. Dafür gibt es im Heim einen vom restlichen Heimbereich separierten Raum. Dort könnten wir bei ihm sein, wenn er nun tatsächlich vor hat, seine letzte Reise anzutreten.

Ich bin wie gelähmt. Natürlich wusste ich, dass ich mich irgendwann genau damit auseinandersetzen muss. Aber, um alles in der Welt, muss das gerade JETZT sein? Und wieder überkommt mich die Angst, die Hilfslosigkeit und eine unsagbare Traurigkeit … Dann immer wieder die bange Frage: Mache ich alles richtig, bedenke ich alles genau und entscheide ich in seinem Sinne oder denke ich nur an mich und daran, dass ich ihn einfach nicht verlieren möchte.

Harnwegsinfekt

Am Abend war die Hausärztin bei ihm. Seine Lungen sind frei. Also erstmal Entwarnung. Keine Lungenentzündung. Bleibt die Frage nach Covid 19 im Raum. Doch auch das schließt die Ärztin aus. Dafür sind seine Atemgeräusche zu gut. Irgendein Infekt scheint es aber wohl zu sein. Die erste Diagnose lautet dann: Verdacht auf Harnwegsinfekt. Wahrscheinlich hat er zu wenig getrunken. Der Verdacht lag am Nachmittag schon nahe. Also bekam er eine Infusion und siehe da, das Fieber ist am Abend wieder gesunken. Für heute Abend sind das erst mal gute Nachrichten. Er bekommt Antibiotika, die er am Abend auch geschluckt hat.

Nun hoffe ich, hoffen wir, dass er tatsächlich nur dehydriert war und daher in einem so schlechten körperlichen Zustand. Nun hoffen wir, dass er die Nacht gut übersteht. Und morgen tauschen wir uns – Ärztin, Heim und ich – erneut aus, wie wir weiter verfahren. Auch wenn es „nur“ ein Harnwegsinfekt ist, tut dennoch schnelles Handeln Not. Sein Gewicht muss unbedingt wieder steigen und damit steht dann die Frage nach der PEG-Sonde wieder auf dem Blatt des Lebens. Soll ich das tun? Es wäre zunächst nur vorübergehend, um ihn wieder in Bereich seines Normalgewichts zu bringen. Er würde nicht ausschließlich über PEG ernährt werden, sondern nur ergänzend, zusätzlich zu den normalen Mahlzeiten. Doch auch hier die bange Frage. Wird das dann im Heim auch so umgesetzt? Da müsste ich dann wieder einmal vertrauen.

Für heute hoffe ich nur eins, dass es ihm morgen wieder besser geht. Die Angst allerdings, die bleibt, die Angst und die große Traurigkeit. Nicht die Angst vor dem Tod, nein, diese Angst ist es nicht. Den Tod fürchte ich nicht. Das Leben ist endlich und das Ende ist nah. Das ist mir klar. Sterben in Corona-Zeiten, das ist es, was mir Angst macht. Dennoch … die Hoffnung bleibt, dass das Schicksal uns noch ein bisschen Zeit schenkt und meinem Vater einen würdigen Abschied ermöglicht. Und das kleine bunte Einhorn in mir mit seiner rosaroten Brille flüstert mir ins Ohr: „Morgen sieht alles wieder besser aus, du wirst sehen!“…

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