75. Was ist Glück?

Da stehen wir nun alle wieder übermannt von all den Gefühlen und der Ratlosigkeit, die die 4. Coronawelle mit sich bringt. Die 4. Welle. Dabei dachten wir doch nach diesem Sommer der Impfungen sei alles endlich vorbei. Dann gehe ich ins Pflegeheim, meinen Paps besuchen und alles fühlt sich auf einmal anders, besser an …

Mit einem Multifunktionsrollstuhl wird er herbeigefahren. Multifunktion, weil er bereits seit gut 2 Jahren nicht mehr lange aufrecht sitzen kann. Er kippt meist sanft nach rechts zur Seite. Die seitlichen Stützen am Stuhl halten ihn aufrecht. Und wie ich diese Zeilen so schreibe, denke ich mir, wie traurig diese Situation doch ist. Alles miteinander Corona, Multifunktionsrollstuhl, ein Papa mit Alzheimer … doch an diesem Tag im Heim, sage ich „hallo Papa“, er hebt den Kopf, lächelt mich an und ich empfinde nichts anderes als pures Glück.

Die kleinen Dinge

Warum ist das so, ab welchem Zeitpunkt ist der Mensch mit kleinen Dingen, Momenten, Bruchteilen einer Sekunde zufrieden? Ab wann beschweren ihm diese Dinge pures Glück? Eine Frage, die ich mir oft stelle und ich komme immer wieder zu dem einen Schluss: Dieses Glücksempfinden ist in uns angelegt. Du hast es oder du hast es nicht. Mag sein, dass man auch ein Stück weit hineinwachsen kann. Viele Menschen beschreiben ähnliche Gefühle, ähnliche Empfindungen. Das Wahrnehmen dieser Glücksgefühle sei ihnen aber erst im Unglück, im Zusammenhang mit einem Schicksalsschlag (wieder) möglich gewesen.

Kinder der Glücks

Ich glaube ja, als Kinder haben wir alle dieses Glücksempfinden. Doch im Laufe unseres Lebens geht es dem einen mehr, dem anderen weniger verloren. Zum Glück (upsi, da ist es ja schon wieder) konnte ich mir viel davon erhalten. Auch schon in guten Zeiten, konnte ich mich an kleinen Dingen erfreuen. An freundlichen Gesten, an der Natur … wie habe ich es geliebt mit meinem Papa zu wandern. Und wir taten es bis zum Schluss, bis es nicht mehr ging. Bis es bei ihm nicht mehr ging. Als Kind war ich fast jeden Sonntag mit meinen Eltern Wandern – irgendwo auf der Schwäbischen Alb. Später gab es noch die regelmäßigen Wanderungen am 1. Januar, am 1. Mai, Vatertag … auch einfach mal so mit den Hunden. Und als bei meinem Paps, die Alzheimer immer mehr Raum ergriff wurden es kleine Spaziergänge, weniger um der Natur, aber dafür mehr um der Bewegung Willen, denn Bewegung half ihm besser zur Ruhe zurückzufinden.

Glücksmomente

An diese letzten gemeinsamen Spaziergänge erinnere ich mich gerne zurück. Auch wenn sie oft schon recht anstrengend waren, denn Paps wollte selten in dieselbe Richtung laufen wie ich, waren es doch gemeinsame Zeiten, in der wir mit den wenig übriggebliebenen Worten, die Papa damals noch hatte, unsere oft seltsamen Gespräch führten und dabei doch im Einklang waren mit der Natur, mit uns, mit unserem kleinen Glück, das in diesem gemeinsamen Spaziergang steckte.

Heute sind diese Glücksmomente solche, wie dieser Begrüßungsmoment, wenn mein Paps mich sieht und lächelt, wenn er die Hand hebt und über meine Wange streichelt, wenn er gerade noch in seiner Welt gefangen seinen Kopf hebt, sobald ich den Bluetooth-Lautsprecher anstelle und ein Song von seiner Playlist erklingt. Es gibt so viel von diesem kleinen Glück auf dieser Welt, man muss nur genau hinsehen. Nicht unbedingt mit den Augen, denn das Herz sieht viel mehr.

„Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“

Dieser Satz aus dem kleinen Prinz von Antoine de Saint-Exupéry ist mir vor über 30 Jahren das erste Mal begegnet und ich kann sagen, dieser Satz und die dazugehörige Geschichte hat meinen Blick auf die Welt und auf das Leben verändert. Schwer verliebt habe ich dieses kleine Büchlein meinem damaligen Freund geschenkt. Nein, ihn habe ich nicht geheiratet. Ob er das Buch noch hat und ob die schöne Geschichte auch seine Weltsicht beeinflusst hat. Ich weiß es nicht. Meine jedenfalls hat es.

Papa, bist du glücklich?

So bin ich heute dankbar für jeden Moment meines Lebens, auch wenn mir manchmal alles viel zu schnell geht und die Zeiten viel zu grau, manchmal beängstigend und auch verunsichernd sind. Ich bin dankbar. Dankbar dafür, dass ich hier sein darf, dankbar für jeden Moment mit meinem Paps, auch wenn unser (zumindest mein) Gesicht aktuell bei jedem Treffen wieder hinter einer Maske verschwindet. Mein Papa erkennt mich doch, er lächelt mich an und scheint zufrieden.

Im selben Moment frage ich mich: Ist Papa glücklich? Wie lange habe ich mir gewünscht, dass er innerlich zur Ruhe kommen kann, dass dieses ständige Getrieben sein, diese Umherirren und doch nicht wissen wohin, diese Angst und auch diese Wut zur Ruhe kommen kann und meine Paps es endlich schafft wieder bei sich anzukommen. Und je weiter die Krankheit fortgeschritten ist, umso mehr hatte und habe ich das Gefühlt, dass er zur Ruhe kommen kann, das Körper und Geist in der Krankheit wieder zueinander gefunden haben, dass mein Paps wieder bei sich angekommen ist. Und obwohl er kaum noch spricht, bin ich mir sicher, mein Paps erlebt und empfindet diese Glücksmomente genauso wie ich.

Mit der Zeit lernt man als Angehörige, den Menschen mit Alzheimer zu lesen. Ich sehe ob es ihm gut geht und ich spüre, wenn es ihm nicht gut geht. Das sind nur Nuancen, doch ich erkenne sie. Und deshalb kann ich mit Sicherheit sagen. Ja, wenn mein Papa mich sieht, wenn er mich bei unserer Begrüßung anlächelt, wenn er seine Hand in Richtung meine Wange hebt und sie streichelt, wenn er nach Silben sucht und irgendwann die richtigen findet und sie zu meinem Namen formt, dann ist auch er glücklich … und hat es gefunden, das kleine Glück in seiner Welt, in unserer kleinen Welt, in unserem Leben mit Alzheimer.

Danke kleines Glück, dass du mir erlaubst dich zu erkennen …

 

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