Am Montag sind es nun schon fünf Wochen. Fünf Wochen bist du in der Klinik und immer noch haben wir keinen Durchbruch geschafft. Insgesamt scheinst du zur Ruhe zu kommen, doch Nebenwirkungen bremsen den Erfolg aus. Gestern war ein sehr schlechter Tag. Wir sind nicht zu dir durchgedrungen. Du sitzt vor uns und blickst ins Leere. Egal, was wir sagen, es kommt nicht bei dir an. Einzig auf meine Umarmung hast du reagiert.
Heute war dann wieder ein besserer Tag. Als wir in die Klinik kamen, bist du im Zimmer eines Mitpatienten gesessen und auf irgendeine Art habt ihr euch unterhalten. Zwei Männer im Schlafanzug, entspannt beisammen. Wäre das alles nicht so traurig, wäre diese Situation eigentlich ganz schön. Und ich beschließe genau das auch zu sehen. Ein harmonisches Zusammensein zweier alter, kranker Männer – nichts mehr und nichts weniger.
Es sind die kleinen Dinge…
Dabei kommt mir der Gedanke, wie unwichtig Materielles doch auf einmal wird. Eine Situation früher undenkbar, strahlt heute etwas Vertrautes aus. Niemand achtet auf die Kleidung oder auf die perfekt sitzende Frisur. Es geht nur um das angenehme Gefühl, das Wohlsein. Und wieder einmal wird mir klar: „Das letzte Hemd hat keine Taschen“ – das sollten wir uns alle viel häufiger deutlich machen. All die irdischen Güter werden mit einem Mal so sinnlos. Alles Glück der Welt liegt in den kleinen Dingen, wie diesen hier.
Und dann betreten wir den Raum. Begrüßen unseren Vater herzlich, er blickt auf, lacht uns an und wir gehen gemeinsam in sein Zimmer. Heute spricht er viel mit uns. Gibt mir Arbeit an, die ich möglichst für ihn erledigen soll. Dann essen wir gemeinsam zu Mittag. Also er isst und wir sitzen nur dabei. Genussvoll löffelt er sein Chilli con Carne, heute ganz ohne Hilfe. Gestern noch wusste er nicht einmal, was er mit Messer und Gabel anstellen soll, geschweige denn, wie essen. Heute geht es ganz von allein. Und wieder sind es die kleinen Dinge, die uns glücklich machen.
Der Weg ist das Ziel
Später gehen wir noch eine Weile draußen im Klinikpark spazieren, setzen uns ins Café und essen ein Eis. Genussvoll löffelt mein Vater auch sein Schokoladeneis und gibt mir zufrieden noch ein paar geschäftliche Anweisungen. Ich bitte ihn, das alles am Montag erledigen zu dürfen und gönnerisch gibt er mir sein Okay dafür. Im Moment scheint er oft in seine ehemalige Arbeitswelt einzutauchen und wir machen mit. Auch die Schwestern und Ärzte lassen ihn arbeiten. Er geht ins Arztzimmer und sortiert die Akten. Alles erlaubt. Ich finde das toll, dass so etwas in einer Klinik, in der wirklich viel Trubel herrscht, möglich ist.
All das lässt mich und wahrscheinlich auch meine Mutter ertragen, dass er nun schon fünf Wochen in dieser Klinik hockt. Fünf Wochen Hoffen und Bangen und die immer wiederkehrende Frage: Haben wir richtig entschieden, als wir ihn in die Klinik gebracht haben? Es kann nur eine Antwort darauf geben und die lautet: Ja. So schwer es fällt und so grausam einem die Situation manchmal erscheint. Wie oft wünsche ich mir, dass alles wieder anders wird. Doch das ist nun leider nicht möglich und so wird mein Vater wohl noch eine Weile in der Klinik bleiben müssen, bis wir ihn wieder mit nachhause nehmen können und bis die Ärzte schließlich eine medikamentöse Einstellung gefunden haben, die ihm ein würdevolles Leben ermöglicht, trotzt dieser so menschenverachtenden und entwürdigenden Krankheit: Alzheimer.