20. Rien ne va plus

Niemand, wirklich niemand, der es nicht selbst erlebt hat, kann sich vorstellen, wie es sich anfühlt mit Alzheimer zu leben. Und ich meine damit nicht den Erkrankten selbst, sondern sein Umfeld. Ehepartner, Kinder, enge Freunde … niemand weiß wie es sich anfühlt, wenn er es nicht selbst erlebt hat.

Ein Gefühls-Konglomerat aus Zorn, Angst, Freude, Liebe, Hass, Fröhlichkeit und unbändiger Erschöpfung gibt sich die Klinke in der Hand. Eben war wir noch gemeinsam am Lachen, plötzlich überfallt dich irgendein für uns Außenstehende nicht erkennbares Problem und schon kippt die Stimmung. „Du bist mein Schätzle“ und „Hau jetzt ab“ folgen direkt aufeinander. Und wir hinken deinem Chaos immer einen Schritt hinterher.

Lieber Bösewicht

Heute Morgen zum Beispiel wieder. Eben noch guter Stimmung, doch dann geht es ans Umziehen. Raus aus dem Schlafanzug, rein in die Jeanshose, schließlich wollen deine Frau und du heute noch eine Runde spazieren gehen. Doch falsch gedacht, du möchtest die Hose nicht ausziehen. Sei es aus Scham, sei es aus einfachem Trotz: Du willst nicht. Und das bekomme ich heut deutlich zu spüren. Zum allerersten Mal geht mein Vater heute wie von der Tarantel gestochen auf mich los, als ich ihm die Hose wechseln möchte. Normalerweise kein Problem. Heute will er nicht und ich bin der Bösewicht. Im selben Moment tut es ihm auch schon wieder leid. Doch ich hab mich dermaßen erschrocken, dass ich einen Moment brauche. Nein, eigentlich brauche ich den ganzen Tag, um mich davon zu erholen. Die Angst steckt mir in den Knochen.

Angst vor dir, meinem Vater. Doch gleichzeitig auch eine unbändige Liebe zu dir und Trauer um dich. Dabei stehst du doch vor mir. Und es ist auch noch so viel von dir da. Aber du verstehst mich nicht. Du weißt nicht, was ich von dir will. Du erkennst nicht, dass ich helfen will. Du erkennst nur jemanden, der etwas tut, was du nicht willst und dieser Jemand hört einfach nicht auf damit. Dennoch ist es für mich sehr schwer zu verstehen, wie es zu solch einer Wut kommen mag. Natürlich weiß ich, du bist krank. Trotzdem erfüllt es mich mit Schmerz und auch einer gewissen Fassungslosigkeit.

Die Starken bekommen die großen Probleme

Dann kommt der Pflegedienst. Dasselbe Bild. Du machst nicht mit. Willst nicht duschen und packst stattdessen die Pflegerin an beiden Armen. Aggressiv drückst du sie von dir weg und versuchst aus dem Bad zu flüchten. 40 Minuten versuchst sie mit Engelszungen, dich in die Dusche zu bewegen. Ohne Ergebnis. Du bleibst ungeduscht. Die Einzige, die heute nicht aufgibt, ist meine Mutter. Sie schafft es schließlich am Nachmittag, dass du doch noch unter die Dusche gehst. Strike. Können wir heute also doch noch einen Haken dran machen.

Aber kann es so weitergehen? Drei Wochen bis du nun aus der Klinik wieder zuhause und es zeigen sich bereits wieder vermehrt Aggressionen. Ratlos stehen wir da. Was sollen wir tun? Wie handeln? Schnell wird klar, wenn sich dein Zustand nicht wieder stabilisiert, dann müssen wir dich wieder in die Klinik bringen, sonst bringst du uns und dich erneut in Gefahr. Was für eine Scheiße. Hätte es nicht jetzt endlich mal eine Weile einfach so dahinplätschern können. Ja, hätte es, aber nicht bei uns. Die Starken bekommen die großen Probleme – nur so kann ich mir das erklären. Also weitermachen. Sollten sich die aggressiven Aussetzer häufen, dann wissen wir, was zu tun ist. Vielleicht ist es aber auch nur ein kurzes Zwischentief – eine Hoffnung, an die wir uns klammern möchten.

Am Abend frage ich dich „Na Papa, geht es dir gut“ – die Antwort folgt auf dem Fuß: „Natürlich geht es mir gut. Warum auch nicht?“ – ja warum eigentlich … Das Vergessen kann auch seine gute Seite haben.

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