30. Alles relativiert sich

Wie oft ist man unzufrieden, hadert mit der Welt, ist gestresst im Job, mit den Kindern, im Trubel des Alltags. All überall lässt das Hamsterrad grüßen und der Burnout lauert an fast jeder Ecke. Wir wollen höher, weiter, schneller. Keine Zeit innezuhalten. Keine Zeit für Pausen. Das können wir auch noch später machen. Jetzt erst mal die dicke, fette Kohle machen. Und dann? Haltet inne! Möchte ich durchweg rufen, wenn ich so in die Welt blicke. Haltet inne und besinnt euch auf des Wesentliche. Wie? Was? Verständnislose Blicke.

Wagt einen Blick hinein…

Wer einen an Alzheimer erkranken Menschen in seiner Nähe hat, mag verstehen, was mich bewegt. Allen anderen würde ich einen Besuch in der Gerontopsychiatrie empfehlen. Das erdet einen und gibt einem einen ganz neuen Blick auf die Dinge. Work-Life-Balance ist in aller Munde. Doch das Leben ist so viel mehr. Und auf was es sich am Ende reduziert, wird einem kaum klarer als in der Gerontopsychiatrie. Spätestens hier wird jeder erkennen, wie wertvoll das Leben ist und wie unwichtig materielle Dinge sind, denn eins ist klar: mitnehmen können wir nichts. All unser Vermögen, unsere Erfolge, aber auch die Misserfolge werden zu Schall und Rauch. Was bleibt ist der Mensch in Hemd und in Hose. Das mag hohl klingen, ist aber so wahr.

Wagen wir einen Blick in so eine Klinik-Alltag. Was ich hier schreibe habe ich nicht alles genauso erlebt. Ich verfälsche die Geschichten ein bisschen und ich nehme Erzählungen mit rein, die ich aus anderen Klinken gehört habe. Vor allem um die Privatsphäre all dieser Menschen zu wahren. Dennoch kann es sich so oder so ähnlich zutragen…

Beginnen wir mit dem Mann, der an allen Türen rüttelt, der genau weiß, dass es da draußen für ihn weitergehen könnte. Was er allerdings dauerhaft vergisst, ist der Weg zurück nachhause. Also muss die Türe für ihn verschlossen bleiben. Obwohl er den Nachhauseweg vergisst und wahrscheinlich auch viele andere Dinge aus dem Gedächtnis gestrichen sind, weiß er doch ganz genau, dass er hier raus will. Das vergisst er nicht.

Ein anderer erzählt nachhaltig, dass er Sozialarbeiter ist und hier eigentlich nur zu Besuch. Er ist erbost darüber, dass er hier nicht mehr raus darf. Was läuft hier falsch, fragt er sich und mich? Ich erkläre ihm, dass sich die Dinge wahrscheinlich verändert haben, deshalb müsse er erst mal hierbleiben. Ich versuche sein Problem ernst zu nehmen, aber belügen möchte ich ihn nicht. Meine Antwort bringt ihn zum Überlegen. Zunächst ist er zufrieden damit. Einige Zeit später geht seine Fragerunde allerdings erneut los.

Und auch der Mann, der vergeblich nach einem Ausgang sucht. Steht wieder auf der Matte. Diese Mal an einer anderen Ausgangstür, die natürlich ebenfalls verschlossen ist. Dabei ist er so nachhaltig in seinem Wunsch hier rauszukommen, dass es ihm an einem Tag tatsächlich gelingt. Die Polizei findet ihn ein paar Stunden später irgendwo in der Stadt wieder, bringt ihn zurück und die traurige Suche nach dem Ausgang geht von vorne los.

Wo ist meine Tasche?

Eine andere Frau sucht nachhaltig ihre Socken, egal ob sie sie anhat oder nicht. Sie braucht ihre Socken. Eine weitere fragt jeden nach ihrer Tasche, wenn sie ihre Tasche nicht endlich wiederbekomme, dann würde sie gehen. So viel steht für sie fest. Noch einer sucht seinen Geldbeutel, der ihm gestohlen wurde. Zwischendrin zieht sich eine Frau komplett aus, ein weiterer geht aggressiv auf einen Mitpatienten los. Zum Glück passiert nix weiter, weil die Pfleger umgehend eingreifen. Ich könnte ewig weitererzählen…

Was ich damit aber eigentlich zum Ausdruck bringen möchte ist nicht die Skurrilität jeder dieser Handlungen für sich. Nein, ich möchte damit zum Ausdruck bringen: ALLE DIESE MENSCHEN HABEN EIN LEBEN. Der eine war mit Sicherheit wirklich Sozialarbeiter, die andere war wahrscheinlich eine liebende Hausfrau und Mutter, die Dritte vielleicht Anwältin und mein Vater war Geschäftsführer eines weltweit agierenden, mittelständischen Unternehmens. Jetzt sind sie hier in dieser Klinik und machen Dinge, die für uns Außenstehende befremdlich wirken mögen. Jetzt sind sie hier in dieser Klinik und was einmal war ist zum größten Teil vergessen. Nicht für uns Angehörige, wir wissen genau, wer sie einmal waren, wer sie immer noch sind. Nur ihnen selbst fehlt diese Erinnerung und die Erkenntnis des eigenen Selbst. Sie sind Suchende, Suchende in dieser für sie so verrückten Welt.

Wer einmal einen Blick in die Gerontopsychiatrie wirft, wer sich darauf einlässt, dem wird es wie Schuppen von den Augen fallen. Ich bin der Meinung, wir sollten das alle einmal tun, denn Demenz oder Alzheimer kann jeden von uns treffen. Plötzlich, unerwartet, viel zu früh oder auch erst im hohen Alter. Doch wer diese Menschen einmal sieht wird erkennen, wie wertvoll jeder Tag unseres Lebens ist und wie unwichtig Ärger und Probleme werden, die uns einmal so groß und mächtig erschienen.

Mit Gefühl und einer Brise Herz

Dennoch bin ich weit davon entfernt das alles nur negativ zu sehen. Nein, ein jeder Besuch dort, ein jeder Tag mit einem Vater und auch mit den anderen Patienten ist für mich ein Bereicherung. Ich lasse mich auf diese Situation ein, hadere nicht, trete mit den Menschen in Kontakt, zumindest versuche ich es irgendwie. Es ist immer ein Versuch gekrönt mit Erfolg oder Misserfolg. Wenn die Kontaktaufnahme nicht klappt, dann versuchen wir es später wieder. Diesmal vielleicht auf einem anderen Weg und das nächste Mal wieder anders. Versuch gepaart mit Erfolg oder Misserfolg. Das ist für mich die Art der Kommunikation mit einem an Demenz oder Alzheimer erkrankten Menschen. Ich lasse mich auf seine Welt ein. Schalte den Kopf aus und die Emotionen an.

Einem verkopften Mensch, und sind wir das nicht alle, mag das schwerfallen. Doch wer sich bemüht, dem gelingt es auch. Und dieses Bemühen, so finde ich jedenfalls, dieses Bemühen sind wir all diesen Menschen schuldig. Wir, die wir noch unserer kognitiven Fähigkeiten mächtig sind. Wir sind es all den kranken Menschen schuldig, denn sie haben alle ein Leben und das was noch davon übrig ist, sollten wir nicht nur mit all unserer Macht und Kraft beschützen, sondern auch mit viel Gefühl und einer großen Brise Herz für den kranken Menschen so schön wie möglich gestalten. Davon profitieren auch wir. Das könnt ihr mir wirklich glauben.

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