32. Tagein, tagaus

Die Tage vergehen und ich ertappe mich immer häufiger dabei, wie ich fröhlich lache oder so intensiv in Themen oder Situationen abtauche, mit oder in denen ich einfach glücklich bin. Heute Morgen beispielsweise. Herta und ich sind unterwegs auf einer unseren morgendlichen Runden. Wir marschieren den Berg hinunter mit herrlichem Blick auf unser Dorf im Tal und unseren direkt gegenüberliegenden Hausberg. Ich liebe diese Runde, diese Aussicht. Sehe meine Herta fröhlich umhertingeln, auf einmal nimmt sie eine Fährte auf und düst los über die Wiesen kreuz und quer und hin und her. Ich unterbreche sie, weil diese Spur sie doch zu weit weg von mir führt. Ein Pfiff, Herta lässt von der Spur ab und rennt mit Vollgas zurück zu mir. Mein Herz geht auf bei diesem Anblick und bei der Tatsache wie gut wir doch miteinander funktionieren. Ein Pfiff und sie kommt zu mir. Ich bin glücklich.

Schlechtes Gewissen

Dann denke ich an meinen Vater in der Klinik und fühl mich schuldig. Fast schäme ich mich dafür, in diesem Moment glücklich zu sein. Immer wieder ertappe ich mich in solchen Situation und das schlechte Gewissen steigt in mir hoch. Ich weiß, dass ich nichts falsch mache. Ich weiß, dass ich eigentlich kein schlechtes Gewissen habe müsste – und habe es doch. Ich kann nicht aus meiner Haut und glaube, etwas gegen dieses Gefühl tun zu müssen. Doch dann wird mir klar, ich kann nichts dagegen tun. Ich muss damit leben und trotz allem diese schönen Momente genießen. Das sagt mein Kopf und auch der Psychologe und ich weiß, die beiden haben Recht. Was also tun? Mein Leben weiterleben? Das geht so einfach nicht. Und doch geht es ganz automatisch einfach weiter – nur eben anders. Also lebe ich mein Leben, genieße den Tag, nutze die Auszeit, die uns dieser Klinikaufenthalt meines Vaters bietet, nehm die schönen Momente bewusst mit und erlaube mir glücklich zu sein.

Kleine Moment des Glücks

Und dieses Glück kann dann doch wieder die direkte Verbindung zu meinem Vater sein, denn jedes Mal, wenn ich ihn in der Klinik besuche, jedes Mal, wenn ich bei ihm bin, ganz egal ob er einen guten oder schlechten Tag hat. Einfach jedes Mal bin ich auch dort in mitten dieser scheiß Alzheimer glücklich. Wie kann das sein, wo diese Krankheit auf den ersten Blick so aussichtslos und deprimierend, ja so traurig erscheint. Wohl war, dass alles ist traurig, deprimierend und aussichtslos. Doch diese scheiß Alzheimer eröffnet uns auch Chancen und Möglichkeiten des Glücks. So wie wir zum Beispiel erst neulich im Klinikgarten in der Sonne saßen – mein Vater und ich – und das im Februar. Das war toll und hat uns beide glücklich gemacht. Oder dieser eine Moment, als Micha und ich bei meinem Vater die Körperpflege ausnahmsweise auch mal in der Klinik übernahmen. Das Personal war beschäftigt und wir waren gerade da – also übernahmen wir. Und es lief alles ohne Aggression, wir lachten dabei und mein Vater forderte mich hie und da sogar dazu auf, ihm zu helfen: „Mach mal“, – okay, dann machte ich mal. Sein zufriedenes Gesicht und unsere Umarmung danach bedeuten pures Glück für mich.

Loslassen

Genau das rufe ich mir dann ins Gedächtnis zurück, wenn ich weit weg von der Klinik, irgendwo draußen in der Natur mit meinem Hund Herta einfach glücklich bin. Daran denke ich dann und erlaube mir sowohl dieses als auch jenes Glück. Das ist Leben, unser Leben mit Alzheimer. Nächste Woche fahren wir in Urlaub. Eine Woche nur und dennoch weiß ich, dass ich mit schwerem Herzen abreisen werde. Doch wir werden es tun. Wir werden losziehen nach Holland ans Meer und ein paar unbeschwerte Tage genießen. Kraft tanken, für die neuen Aufgaben, die uns zuhause wieder erwarten. Während dieser Zeit hoffe ich einfach nur, dass mein Vater gut versorgt wird. An dieser Stelle heißt es dann die Zügel loslassen und vertrauen. Fällt mir, die gerne alles im Griff hat, natürlich entsprechend schwer. Doch ich werde es tun, loslassen, leben und glücklich sein, um mich dann wieder gestärkt und mit neuer Kraft um die glücklichen Momente mit meinem an Alzheimer erkrankten Vater zu kümmern.

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