35. Es ist, wie es ist

Manchmal schwirrt mir schlichtweg der Kopf. Tausend Aspekte dieser Krankheit, tausend Einflüsse, tausend Ideen, tausend Ängste … und kein Weg in Sicht. Seit wir aus dem Urlaub zurück sind, überschlagen sich hier die Ereignisse. Immer wieder überfällt meinen Vater eine unsagbare Müdigkeit. Mal ist er gut auf den Beinen, dann wieder superschlecht. Am Freitag war ich bei ihm zum Abendessen. Das war vielmehr eine unkoordinierte Essensschlacht, als Essen. Das Abendbrot wollte einfach nicht in seinen Mund und am Ende lagen sowohl diverse Schinkenscheiben als auch die Brotscheiben dekorativ verteilt auf dem Tisch. Die Medikamente hab ich gerade nochmal so in den Mann gebracht, bevor er mir dann auf dem Stuhl sitzend eingeschlafen ist. Mit Müh und Not haben wir ihn nach dem Essen zu dritt in sein Bett gebracht, wo er direkt noch ein bisschen vor sich hin fabulierend einschlief.

Das wünsche ich dir nicht

Zudem kann er seit ein paar Tagen nicht mehr aufrecht sitzen. Sein Körper neigt sich nach rechts. Selbst wenn er versucht aufrechter zu sitzen, klappt es einfach nicht. Er scheint wie blockiert im Rücken und hat bei manchen Bewegungen auch Schmerzen. Die sehe ich nicht nur in seinem Gesicht, er äußert sie auch mit einem deutlichen „AUA“. Zusätzlich bekommt er immer wieder erhöhte Temperatur, sei es weil er einen Infekt hat. Es könnten aber auch Nebenwirkungen des neuen Medikamentes sein. Das alles verschwimmt mir vor den Augen, ich seh nicht mehr klar. Nur eines weiß ich sicher: Das was hier gerade mit meinem Vater passiert, ist eine Katastrophe – unsere Katastrophe.

Ich möchte ihn so nicht sehen und fühle mich entsetzlich hilflos dabei, möchte ihn am liebsten direkt wieder mit nachhause nehmen. Das geht nicht, ist mir klar. Aber alles in mir schreit danach. Es ist so unsagbar schwer für mich zu akzeptieren, dass ich ihm nicht helfen kann, nicht so helfen kann, wie ich es gerne möchte. Ich möchte, dass er wieder zuhause ist bei uns. Ich möchte, dass wir ihn trotz seiner Erkrankung in seiner gewohnten Umgebung pflegen können. Seine Aggressionen sind da, ja, aber mit mir und meinem Mann, waren und sind sie zu bewerkstelligen. Doch wir können uns nicht den ganzen Tag um ihn kümmern. Und meine Mutter läuft , wenn sie sieben Tage die Woche dauerhaft 24-Stunden mit ihm zusammen ist, bald wieder Amok. Das hatten wir ja bereits. Also keine Option.

Das Heim scheint im Moment der einzige Ausweg. Mein Kopf weiß, es ist in unserer Situation der richtige Weg. Doch dieser Weg, diese Entscheidung ihn dorthin bringen zu müssen, liegt mir wie tausend dicke Steine im Magen und mein Herz ist schwer.

Gedanken sortieren

Was soll ich, was sollen wir tun? Was können wir tun? Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Ich bekomme sie kaum sortiert. Dabei sehe ich meinen Vater immer wieder, wie er schläft, wie er mit kleinen Trippelschritten vorwärtsstolpert, wie er in seinem Alzheimer-Tunnel verschwindet und weder Hände noch Beine richtig koordinieren kann, wie er Schmerzen hat und auch Angst. Es bricht mir das Herz.

Doch dann beginne ich aus dem Strudel heraus, der mich immer weiter nach unten zu ziehen droht, meine Gedanken wieder zu sortieren. Mein kreatives Gehirn beginnt wieder zu arbeiten und ich tauche auf. Pah. Wäre doch gelacht, wenn wir das nicht auch noch packen. Und so sitze ich bei meinem Paps, der gerade mal wieder nach rechts geneigt auf dem Stuhl sitzt, in Schonhaltung wegen seiner Rückenschmerzen, reiche ihm das Essen und entdecke ein Lächeln in seinem Gesicht. Er schaut mich an, hält meine Hand und lächelt. Erkennt er mich jetzt oder schmeckt ihm einfach nur das Essen? Ich weiß es nicht. Was ich aber sehe ist ein zufriedenes Lächeln, ein Moment der Freude und für mich ein Moment des Glücks. Das ist es was zählt … und auch ich lächle…

Nein, ich wünsche ihm all das nicht, was gerade mit ihm passiert. Ich wünsche es auch mir, ich wünsche es uns allen nicht. Und doch passiert es. Ich nehme es an, sortiere meine Gedanken und beschließe, bei der nächsten Chefarztvisite in der Klinik zu sein, mit all meinen Fragen, Sorgen, bedenken und Ängsten im Gepäck. Und dann sehen wir weiter. Denn es geht immer weiter…

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