Die Dinge haben sich überschlagen. Fast 14 Tage hat mein Vater mehr geschlafen als dass er wach war. Ein grippaler Infekt hat ihn niedergelegt und in direkter Folge – wie sollte es auch anders sein – haben sich Nebenwirkungen gezeigt. An einem Tag hat er sogar so tief geschlafen, dass sich die Ärzte kurzzeitig große Sorgen gemacht haben. So lag er da also in seinem Bett und wurde nur zum Essen wach. Das hat ihm zum Glück die ganze Zeit geschmeckt. Er hat quasi im Schlaf gekaut, gegessen, getrunken und geschluckt. Keine Ahnung wie er das gemacht hat.
Ich bin bei der Chefarztvisite dabei. Die Ärzte wollen erst noch abwarten bis die Erkältung abklingt und dann weitersehen. Dann geht es aber doch schneller als gedacht. Es zeigen sich Blutwerte die deutlich auf Nebenwirkungen zurückzuführen sind. Also wird das Medikament abgesetzt. Und siehe da mein Vater wird wieder wach.
Rollstuhl
Doch danach zeigt sich ein trauriges Bild. Mein Vater ist viel zu schwach, um auf seinen Beinen zu stehen. Er sitzt nun im Rollstuhl und niemand weiß, ob er da jemals wieder rauskommt. Bei einem Alzheimer-Patient, der über 2 Wochen lang nur liegt oder sitzt, bei dem stehen die Chancen schlecht, dass er jemals wieder laufen wird. Die scheiß Alzheimer sorgt dafür, dass der Mensch einfach vergisst wie es geht.
Mir zerreißt es das Herz, ihn so zu sehen. Sieben Wochen ist er nun in dieser Klinik. Auf beiden Beinen ging er sicheren Schrittes hinein und jetzt sitzt er im Rollstuhl. In meinem Hirn kreisen die Gedanken. Ich frage mich, was hätten wir anders machen können. Hätte ich es verhindern können? Nein. Hätte ich nicht. Mein Vater hat Alzheimer und er wurde dabei so massiv aggressiv, dass wir es zuhause nicht mehr hinbekommen haben. Meine Mutter hatte blaue Flecken am ganzen Körper. Kein Pflegedienst fand einen Zugang zu ihm. Nur mein Mann und ich, wir finden Zugang zu ihm, bewerkstelligen die Körperpflege ohne größer Aggressionen – aber allein bekommen wir es einfach nicht hin – das ist zu viel. Ich fühle mich schlecht und ich bin tieftraurig, meinen Vater so zu sehen.
Beruhigungsmittel
Doch es kommt noch schlimmer. An dem Tag, als das Medikament, das so starke Nebenwirkungen bei ihm verursacht hat, endlich abgesetzt wird (es muss langsam ausgeschlichen werden, deshalb dauert das ein paar Tage), gibt ihm ein Pfleger doch tatsächlich Beruhigungsmittel. Mein Vater ist gerade so am Aufwachen, seine Motorik kommt allmählich zurück (er konnte sich zwischenzeitlich nicht einmal mehr an der Nase kratzen). Und da gibt ihm dieser Pfleger direkt ein Beruhigungsmittel. Damit bin ich nicht einverstanden. Und ich behalte Recht.
Mein Vater fällt natürlich prompt wieder zurück in seinen absolut müden und quasi unbeweglichen Zustand. Er reagiert in den folgenden Tagen auf nichts – außer auf Essen und Trinken, was natürlich bei all dem Drama drumherum ein gutes Zeichen ist. Das Bild, das mein Vater insgesamt abgibt, ist allerdings ein schreckliches, denn nun stellt er auch noch seine Sprache ein. Er ist absolut verstummt. Wenn ich ihn sanft berühre und leise mit ihm spreche, wenn ich dabei versuche irgendwie in sein Gesichtsfeld zu kommen, so dass er mich sieht, dass er mich wahrnimmt, dann lacht er mich für einen kurzen Moment an, bevor er wieder in seine Welt verschwindet.
Reden ist Gold
Ich suche das Gespräch mit den Ärzten und siehe da: Sie geben mir absolut Recht. Beruhigungsmittel haben im Moment im Körper meines Vaters nichts zu suchen. Der Oberarzt scheint sogar regelrecht angefressen von der Tatsache, dass überhaupt jemand auf die Idee kommt, meinem Vater in seinem Zustand Beruhigungsmittel zu geben. Denn die sollte er nur bekommen, wenn er in einem erregten Zustand ist. Das impliziert ja bereits das Wort BERUHIGUNGS-Mittel. Aber von erregtem Zustand, Unruhe oder gar Aggression, kann man bei meinem Vater aktuell nicht sprechen. Er sitzt im Rollstuhl und ist viel zu müde, um auch nur im Entferntesten aggressiv zu reagieren. Die Pflege bekommt entsprechende Anweisungen und ich atme auf. Zum Glück bin ich immer am Reden und stets auf der Suche nach Austausch – mit allen, mit den Pflegekräften und mit den Ärzten. Mag sein, dass ich dem einen oder anderen damit auf die Nerven gehe. Aber ich bemühe mich, meine Worte wohl zu wählen, niemandem zu nahe zu treten und dabei dennoch meine Ansicht, meine Bedenken, aber auch meinen Dank an den Mann und die Frau zu bringen.
Schaut auf den Mensch
Die Musiktherapeutin Simone Viviane Plechinger bringt das Thema „Herausforderndes Verhalten und wie in der Pflege damit umgehen“ in ihrem aktuellen Beitrag im Online-Magazin 59plus „Demenz Fibel: Herausforderndes Verhalten“ wieder einmal schön auf den Punkt. Sie beschreibt eingängig, welche Möglichkeiten es gibt – ohne Beruhigungsmittel oder Psychopharmaka – mit herausforderndem Verhalten, wie beispielsweise mit Aggressionen oder Angst, umzugehen. Man (und damit meine ich Pflegekräfte und Angehörige) muss es nur wollen, naja – und vielleicht muss man es auch ein bisschen können. Denn ich erlebe es doch allzu oft, dass der gesunde Mensch es schlichtweg nicht schafft, seine eigene verkopfte Ansicht und seine ein Leben lang gelebten Strukturen, einfach mal hinten anzustellen, sich von ihnen zu lösen und sich ganz auf den kranken Menschen und seine Welt einzulassen.
Daraus folgt in der Praxis allerdings viel zu schnell der Griff zu Psychopharmaka oder eben anderen Beruhigungsmitteln. Genauso wie bei meinem Vater. Pflegedienst und auch Pflegeheime verweigern schlichtweg die Pflege oder seine Aufnahme in eine Heim, solange er Aggressionen zeigt. Dieser schnelle Griff zum Medikament und die damit verbundene Erwartung, dass eben dieses Medikament alles lösen kann, muss sich unbedingt ändern. Dafür kämpfe ich und auch deshalb schreibe ich hier diesen Blog. Dabei spüre ich bereits einen sanften Wind der Veränderung. Hoffen wir, dass daraus endlich ein reinigender Sturm wird.
Abwarten
Was passiert jetzt mit meinem Vater? Aktuell bekommt er keine Neuroleptika mehr. Was bin ich froh. Die Ärzte wollen zunächst abwarten, wie er sich ohne den ganze Medikamente-Cocktail gibt. Ich habe tatsächlich einen Oberarzt gefunden, der meine Meinung teilt. Man muss den Mensch sehen und ihn nicht einfach mal mit Medikamenten vollstopfen, nur weil er eben nicht mehr in unsere gängigen Strukturen passt. Doch auch er ist dem System ein Stück weit unterworfen – ja er arbeitet darin.
Was also passiert jetzt mit meinem Vater. Die Ärzte, die Pflegekräfte und wir beobachten … kommen die Aggressionen wieder zurück? Aktuell sieht es nicht danach aus. Allmählich wird mein Vater auch wieder klarer. Er ist einfach ein alter Kämpfer ❤. Er isst, er trinkt und er arbeitet sich zurück ins Leben. Dennoch … alt ist er geworden. Wenn ich die Bilder von vor ein paar Wochen mit heute vergleiche, kommen mir die Tränen. Ich bemühe mich trotz allem, das Positive zu sehen, denn ihm geht es von Tag zu Tag besser. Erste kleine Schritte mit den Pflegekräften macht er auch wieder, er spricht wieder und was für mich das Wichtigste ist: Er LACHT wieder, er lacht mich an und er lacht mit mir … und er hält meine Hand und ich die seine…