Wie gerne hätte ich es anders gemacht. Wie gerne hätte ich dich wieder mit nachhause genommen. Wir gerne hätte ich dich zuhause gepflegt, hätte dir deine letzten Jahre zuhause schön gemacht. Doch es soll nicht sein…
Auch wenn ich den Eindruck habe, dass die Pflege meines Vaters zuhause sehr wohl möglich ist. So bin ich doch nur ein Rädchen in einem Getriebe, in dem viele Rädchen zusammen funktionieren müssen. Und das eine Rädchen (Mama) funktioniert nicht mehr. Meine Mutter bekommt regelrecht Panik bei dem Gedanken, dass mein Vater wieder nachhause kommt. Gleichzeitig will sie nicht, dass er ins Heim muss. Ein Dilemma, aus dem sie nicht herauskommt. Ein Dilemma, aus dem nur wir ihr heraushelfen können.
Schattenspiele
Nach drei langen und nervenaufreibenden Monaten in einer gerontopsychiatrischen Klinik steht es nun fest: Die Pflege meines Vaters ist zuhause nicht mehr zu stemmen. Ein Gedanke, der mich innerlich zerreißt, aber eine Wahrheit, der ich ins Auge blicken muss. Nach vielen, vielen Tiefs in der Klinik, nach massiven Nebenwirkungen und dem Noro-Virus sitzt mein Vater immer noch im Rollstuhl. Seine Aggressionen sind kaum mehr vorhanden und die wenigen, die er bei der Körperpflege zeigt, werden aktuell noch mit Lorazepam behandelt. Ein Zustand, den ich kaum ertrage, denn er ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Dabei war nach den massiven Nebenwirkungen eine wirkliche Besserung zu erkennen. Er stand sogar wieder auf den Beinen und ist gelaufen. Daran ist aktuell überhaupt nicht zu denken. Er ist quasi in einem Schwebezustand. Kaum ansprechbar und doch ist da drin, irgendwo hinter dem Lorazepam-Mäntelchen versteckt, noch ein unbändiger Wille zu leben.
Lebenswert – trotzt Demenz
Und diesen Willen, möchte ich unterstützen, denn ich bin, entgegen vielerlei Meinung, davon überzeugt, dass auch mit Alzheimer oder Demenz noch ein lebenswertes Leben zu leben ist. Allerdings nicht, wenn man unter Lorazepam-Dauermedikation steht. Deshalb habe ich die Behandlung mit Cannabis vorgeschlagen. Eine andere medikamentöse Alternative hat die Medizin nicht mehr. Mein Vater hat alle Medis durch und sie haben ihn kaputt gemacht. Was also haben wir, hat er noch zu verlieren. Jau, aber Cannabis!?! Das war den Herren Ober- und Chefärzten dann doch eine Nummer zu modern. „Die Studienlage dazu ist noch zu dünn“, sagt man mir. Klar, wenn sich keiner ran traut. Doch ich wäre nicht ich, wenn ich da nicht dranbleibe. Und dann habe ich auch noch mehr Glück als Verstand, treffe diese und jene und habe plötzlich einen Kontakt in eine Klinik, ganz bei uns in der Nähe, die mit Cannabis bei Alzheimer bereits arbeitet.
Netzwerken – immer wieder Netzwerken
An dieser Stelle möchte ich euch alle da draußen, die ihr gerade ebenfalls gegen oder auch mit dieser Krankheit kämpft, zurufen: Gebt nicht auf. Lasst ein „nein“ nicht gleich als unumstößlich gelten. Schaut euch um, sucht nach Menschen, die euch helfen können. Tretet ins Rampenlicht und sprecht über eure Probleme und Sorgen. Irgendwo geht ein Türchen auf. Ihr glaubt gar nicht, wie wertvoll und hilfreich Netzwerke sein können. Traut auch, es gibt so viele da draußen, die mehr wissen, die euch Tipps geben können oder einfach nur zuhören. Alzheimer oder die Demenz allgemein muss endlich in der Mitte der Gesellschaft ankommen. Wirklich ankommen, denn im Grunde ist sie das bereits, nur traut sich kaum einer darüber zu reden. Diese Stigma, das über dieser Krankheit wie ein Damokles-Schwert schwebt, lässt die Menschen verstummen. Lasst es nicht zu, dass euch diese Krankheit die Stimme nimmt!
So geht mein Vater nun also in ein Seniorenheim – mit 71 Jahren. Ich lese, was ich schreibe, doch ich verstehe es noch nicht…
Plan C
Dort werden wir direkt versuchen das Lorazepam wieder zu minimieren, bestenfalls abzusetzen. Sollten die Aggressionen meines Vaters in Folge dessen wieder stärker werden, dann greift mein Plan C ?. Was verspreche ich mir davon? Im Moment ist es so, dass das Lorazepam meinen Vater den kompletten Tag über sediert. Ein paar wenige Stunden ist er klar. Die meiste Zeit aber irgendwo am Schweben, also voller Chemie. Ohne Lorazepam hat er Kraft genug, um auf den Beinen zu stehen und zu laufen. Mit Lorazepam nicht. Das Ergebnis war gestern (drei Tage vor seiner Entlassung ins Heim) ein heftiger Sturz, bei dem er sich eine fette Platzwunde am Kopf zugezogen hat. Auch das noch.
Warum bekommt er das Medikament? Weil er bei der Körperpflege nach wie vor Aggressionen zeigt. Die sind in meinen Augen aber mittlerweile im Vergleich zu dem Zustand vor ein paar Monaten kaum mehr der Rede wert. Immer mehr Pfleger geben Rückmeldung: „Mit mir funktioniert die Körperpflege gut.“ Also warum dann diese unsägliche Chemie?
Aggressionen bei der Körperpflege waren und sind die einzige Form von Aggression, die mein Vater zeigt. Ansonsten ist er den Tag über ein friedlicher Geselle. Jetzt unter Lorazepam allerdings erkennt er bisweilen nicht mal, dass er meine Hand hält und dreht mir einfach so den Finger um. Nicht aus Aggression, sondern aus völliger Verwirrtheit. Die allerdings nicht der Alzheimer, sondern ohne Zweifel dem Medikament zuzuschreiben ist. Er bekommt die Chemie also deshalb, damit die Körperpflege für ihn und die Pfleger stressfreier verlaufen kann. Soweit verstehe ich das ja, denn wer lässt sich gerne eine verpassen. Und das geht bei ihm manchmal schnell. Ich hatte ja bereits erwähnt, dass ich im Laufe der Zeit ein wahrer Profi im Wegducken geworden bin.
Schön wäre es dann aber, wenn die Wirkung nach 2-3 Stunden wieder nachlassen würde. So sollte es eigentlich auch sein. Ist bei meinem Vater aber nicht so. Sein Körper macht mit fast allen Medikamenten, was er, nicht was die Pharmazie will. So ist er wie weggeschossen, fast den ganzen Tag.
Warum also Cannabis? Ich erhoffe mir damit ein größeres klares Zeitfenster für ihn. Will heißen: ein Entspannungszustand während Pflege und danach wieder ein klarer Kopf. Damit er endlich wieder seinem Drang zu laufen nachgehen kann, ohne dass sich die Erde unter ihm dreht oder er schlichtweg zu schwach oder zu abgeschossen ist, um sich auch nur kurz auf den Beinen zu halten.
Der Schmerz ist groß…
Das also ist der aktuelle Stand. Das sind meine Ideen und Pläne für ein lebenswertes Leben, auch mit Alzheimer. Doch über all dem schwebt der Schmerz und die Tatsache, dass mein Vater nie mehr in sein in unser Zuhause kommt. Für mich als Tochter, die Zeit ihres Lebens – außer in der Studienzeit – immer zusammen mit den Eltern in einem Haus gewohnt hat, ist das sehr schwer, dieser unausweichlichen Wahrheit ins Auge zu blicken. Normalerweise sind wir abends viel zusammengesessen. Gerade jetzt in den Sommermonaten, saßen wir gemeinsam bei einem Gläschen Wein, Bier oder Sekt zusammen auf der Terrasse und haben den Tag ausklingen lassen. Jetzt muss oder darf ich ihn besuchen gehen und zuhause bleibt sein Platz für immer leer.
Ja, ich weiß, dort im Heim wird man sich um ihn kümmern. Da laufen die Rädchen sauber ineinander, die bei uns nicht mehr gegriffen haben. Dort wird man sich um ihn kümmern und wahrscheinlich wird er sich dort auch wohlfühlen, denn wir haben ein sehr schönes Heim gefunden. Ein Heim in dem wir alle sofort ein Willkommens-Gefühl gespürt haben. Das ist gut, ich weiß das. Dennoch ist mein Herz schwer. Mit Sicherheit werden Kopf und Herz noch eine Weile miteinander kämpfen. In der Zwischenzeit versuchen wir es ihm dort im Heim so schön wie möglich zu machen. Wir bringen ihm seinen Lieblingssessel. Dann habe ich Bilder von uns auf Leinwand ziehen lassen. Die hänge ich in seinem Zimmer auf. Er hat sogar einen Wintergarten, in dem er sitzen kann (da kommt sein Sessel hin) und vor dem Zimmer hat er auch einen Garten mit Apfelbäumen und einer Brombeer-Hecke … und eine Terrasse. Das werden wir alles schön herrichten. Ein paar Gartenmöbel auf die Terrasse, dann können wir gemeinsam draußen in der Sonne sitzen. Der Sommer steht ja vor der Tür. Ich weiß, das bekommen wir hin und ich bin davon überzeugt, dass er dort gut haben wird. Und dennoch, fällt es mir so schwer.
Das andere Glück
Ich habe bereits mehrfach mit ihm darüber gesprochen. Habe ihm gestern dann auch gesagt, dass wir ein Zimmer für ihn gefunden haben. In einer schönen Wohnung, wo man sich um ihn kümmern kann, besser als wir das können. Aber ich habe ihm auch gesagt, wie schwer mir das alles fällt. Ich weiß nicht, was davon bei ihm ankommt, aber ich finde, er muss es wissen. Er muss zumindest die Chance haben, zu verstehen, warum das alles jetzt mit ihm passiert. Und dann ist da noch dieser Gedanke: Das ist jetzt wirklich der letzte Lebensabschnitt – und der schnürt mir die Kehle zu.
Trotzdem möchte ich auch diesen Beitrag heute nicht traurig ausklingen lassen. Ich bin ein durch und durch positiver Mensch. Und ich bin davon überzeugt, auch die Traurigkeit hat ihre positiven Seiten. Sie eröffnet einem den Blick auf das etwas andere Glück. Ja, das Glück meines Vaters sieht nun anders aus. Mit Sicherheit vollkommen anders als das Glück eines anderen 71 Jahre alten Mannes. Aber so ist es nun einmal. Wir haben durch diese Krankheit das Glück und die Chance für eine emotionale Tiefe, die anderen vielleicht verborgen bleibt. Wir haben mit dieser scheiß Alzheimer die Möglichkeit bekommen, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Und wenn ich meinen Vater dann bei der Hand nehme und ihn frage: „Sollen wir das so machen?“ Und er dann antwortet: „Ja, so machen wir das.“ Dann bedeutet das ein großes Glück für mich. Ein großes Glück und ein Gefühl der Nähe, wie wir sie schon lange nicht mehr gelebt haben. Und ich weiß, nein ich fühle, dass er im Moment ganz bei sich und ganz bei mir ist. Auch das macht Alzheimer möglich…