40. Neues Zuhause

„Das ist jetzt dein neues Zuhause“, sage ich zu meinem Vater, bevor mir die Stimme versagt. Mehr bekomme ich nicht mehr über die Lippen, dabei hätte ich so viel zu sagen. Stattdessen zittern meine Hände und mir kullern die Tränen übers Gesicht. Allen in der Familie hab ich gesagt: „Heult bloß nicht.“ Wir müssen stark sein, für ihn.“ Und nun sitze ich hier und mache genau das. Neben mir meine schwangere Schwester, die auch mit den Tränen kämpft. „Fuck“, wie konnte es nur soweit kommen und wieder einmal verfluche ich diese scheiß Alzheimer.

Der Einzug

Es ist Dienstag der 21. Mai 2019 und wir sitzen hier in dem kleinen Wintergarten, der zum Zimmer meines Vaters in seinem neuen Altersheim gehört. Von dort hat er einen schönen Blick in den Garten mit einer großen Blumenwiese, Obstbaumen und einem Brombeerbusch. Bei schönem Wetter können wir gemeinsam dort draußen sitzen. Doch heute regnet es. Es reget so sehr wie schon lange nicht mehr. Man könnte den Eindruck haben, der Himmel weint mit uns. Ein Wetter, das die Stimmung nicht gerade zu heben vermag.

Vor knapp einer Stunde saßen wir im großen Wintergarten des Seniorenheims und haben darauf gewartet, dass der Krankentransport meinen Vater von der Klinik ins Seniorenheim bringt. Und da kam er auch schon in seinem Rollstuhl sitzend und mit einem Blick, der ganz offensichtlich zeigte, dass er nicht verstand, was da gerade mit ihm passiert. Dieses Bild, ihn so zu sehen, meinen noch vor kurzem so starken, präsenten, selbstbewussten, ja so lebendigen Vater so zu sehen, bricht mir das Herz und ich bekomm es nicht mehr aus meinem Kopf. Selten in meinem Leben war ich so tieftraurig wie an diesem Tag. Und am Abend zurück aus dem Heim lass ich es dann auch einfach raus. Ich weine und weine und weine und die Verzweiflung gräbt ihr Krallen tief in mich hinein. Ich verstehe selbst nicht so ganz, was da gerade mit mir passiert. Doch das muss wohl sein. Ich lass es raus und falle dann todmüde ins Bett.

Emotionen, Emotionen, Emotionen…

Heute einen Tag später geht es mir nicht wirklich besser. Doch ich versuche, mich zu berappeln. Mache langsam, gönne mir ne Pause und bin dann doch schnell wieder im „Was muss ich als nächstes tun“-Modus. Noch ein paar Dinge mit der Krankenkasse regeln, noch mal mit dem Heim telefonieren. Dann gab es Probleme mit dem Rezept für Papas Medikamente. Also Apotheke anrufen. Klärt sich alles ganz schnell. Doch ich merke deutlich, wie gereizt ich bin.

Allmählich bekomme ich die Füße wieder auf den Boden, versuche das schwankende Boot der tausend Emotionen zu verlassen – zumindest für kurze Zeit, immer wieder einmal – und lasse den Tag gestern noch einmal Revue passieren. Im Grunde hat sich mein Vater, als er im Heim angekommen war, gleich wohl gefühlt. So zumindest unser erster Eindruck. Als er uns sah, war sofort die gewohnte Vertrautheit da. Er bekam Kaffee und Kuchen, den er direkt und mit Herzenslust vernaschte. Meine Schwester und ich waren zunächst noch eine Weile mit dem Pflegepersonal beschäftigt, viele Dinge mussten besprochen werden. Schließlich wollen alle, dass es meinem Vater dort, in seinem neuen Zuhause, gut geht.

Erstes Kennenlernen

Danach haben wir sein Zimmer bezogen, sind in den kleinen Wintergarten gegangen, der zu seinem Zimmer gehört – da ist es wirklich schön – und haben ein bisschen gemeinsame Zeit verbracht. Die Pfleger haben sich ihm alle vorgestellt, ein erstes Kennenlernen, Blutdruck und Blutzucker messen und einmal wiegen bitte. So, angekommen. Zum Abendessen haben wir ihn dann in den Gemeinschaftsraum geschoben. Und bei einem Blick in die Runde wurde mir noch einmal schmerzlich bewusst, wie krank mein Vater bereits ist. Bevor wir gehen, küsse ich ihn auf die Wange und sage „Bis Morgen“. Ich weiß, dass ich morgen nicht komme, aber diese therapeutische Lüge brauche ich für mich. Noch einmal kurz überlegen, ob ich wirklich an alles gedacht habe. Ja, habe ich inklusive 4 Seiten biografische Infomaterial über meinen Vater – für die Pflegekräfte. Die denken wahrscheinlich, ich hab sie nicht alle. Für mich ist es aber wichtig, dass sie alle so viel wie möglich über ihn wissen.

Loslassen vs. Macher-Modus

Mir ist klar, ich muss loslassen. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem es nur noch diesen einen Weg gibt und den möchte ich ihm – trotzt meiner eigenen Verzweiflung, die mich aktuell wirklich sehr beansprucht und streckenweise auch geradezu lähmt – trotz allem möchte ich ihm diesen Weg so angenehm wie möglich machen. Also heißt es jetzt neu denken. Was kann ich tun? Und dass ich etwas tun muss, das ist klar. Ich kann die Dinge nicht einfach so geschehen lassen. Das konnte ich noch nie.

Also lasse ich Bilder auf Leinwand ziehen, die ich dann in seinem Zimmer aufhänge. Seinen Lieblingssessel wollen wir ihm noch bringen. Aber nein, der steht erst mal im Weg. Vielleicht bringen wir den später noch. Im Moment ist mein Vater noch akut sturzgefährdet, weil es gerne aufstehen möchte, es aber aufgrund der starken Medikamente, die ihn „ruhigstellen“ sollen, nicht kann. Seine Beine halten ihn nicht. Also erst mal kein Sessel, aus dem würde er mit Sicherheit nur rausplumpsen. Und schon bin ich wieder im Machermodus. Das hilft mir, wenn ich weiß, dass ich damit ihm vielleicht helfen kann. Im Heim gibt es ein Freiwilligen Netzwerk, vielleicht kann ich mich dem anschließen und Sinnvolles tun. Ich werde mich mal informieren. Aber fürs Erste muss ich jetzt erst mal akzeptieren, dass die Dinge so sind, wie sie sind.

Hör auf das lachende Auge

Ich muss es akzeptieren, dass mein Vater jetzt in einem Seniorenheim lebt. Ich muss raus aus dieser Traurigkeit und hinein mit ihm in ein Leben im Moment. Ja, wir werden jeden Moment genießen. Menschen mit Alzheimer leben im Moment, leben aus dem Moment. Und genau das werden wir jetzt tun. Ganz egal wo wir sind. Bei uns zuhause oder in seinem neuen Zuhause. Und morgen oder übermorgen werde ich es vielleicht noch einmal versuchen, werde versuchen ihm zu erklären, warum er jetzt hier lebt und nicht mehr bei uns Zuhause und dass wir es ihm überall schön machen werden, hier wie dort. Und das Bester: Hier im Seniorenheim haben wir noch so viele Helfer dazu, da kann es ja nur schön werden … sagt mein lachendes Auge…

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