42. Gekämpft und gewonnen

Wow, über einen Monat habe ich mich nicht mehr gemeldet. Wird also höchste Zeit, euch mal wieder auf den neuesten Stand zu bringen. Lange Schreibpausen bedeuten entweder, wir durchleben gerade eine sehr schlechte Zeit in unserem Leben mit Alzheimer oder es sind uns ruhige Zeiten vergönnt. Letzteres ist der Fall und ich kann euch gar nicht sagen, wie froh ich darüber bin. Aber von vorn:

Wie ich berichtet habe, haben wir in Zusammenarbeit mit den Ärzten und Pflegern langsam und in kleinen Schritten die Dosis von Lorazepam reduziert. Zuletzt war der Zustand meines Vaters unter Lorazepam auch schier unerträglich. Er war kaum ansprechbar. Nahm am Leben quasi nicht mehr teil. Hatte Probleme beim Schlucken. Konnte nicht mehr laufen und schlief sehr häufig einfach ein. Einfach so, im Sitzen und war dann auch nicht mehr wach zu bekommen. Mit jedem Tag, an dem das Lorazepam in seinem Körper weniger wurde, wurde er wacher und wacher. Nahm uns und seine Umwelt endlich wieder wahr.

Zurück im Leben

Und dann kam er endlich der große Tag. Lorazepam wurde komplett abgesetzt. Jetzt kam es darauf an. Wie geht es mit ihm weiter? Wird er wieder aggressiv? Oder was wird passieren? Der Neurologe bereitete uns auf eine schlechte Phase vor. Es kann nach dem Absetzen des Medikament zu einer vorübergehenden massiven Verschlechterung kommen, mit Unruhe, Aggression etc. Das sei aber wirklich nur vorübergehend. Doch nichts davon ist eingetreten. Stattdessen wurde mein Paps von Tag zu Tag klarer. Die Worte kamen wieder zurück. Er erkennt mich wieder, nennt mich immer häufiger beim Namen. Nimmt aktiv Kontakt mit uns auf und erzählt und erzählt und erzählt.

Die Pflegesituation hat sich dabei kaum verändert. Er arbeitet unter Lorazepam dagegen und auch mit Beruhigungsmittel ist die Pflege schwierig. Doch die Pflegekräfte sagen uns unisono, es sei kaum ein Unterschied ob mit Medikament oder ohne.  Und wir atmen auf. Was für gute Nachrichten und ja, was für ein tolles Pflegepersonal. Ich kann es nur immer wieder wiederholen. Wir haben wirklich ein Heim gefunden mit Pflegekräften, die Empathie leben.

Deutschland sucht die Super-Pflegekraft

Neulich kam ich dazu, wie eine Pflegekraft mit meinem Paps im Bad war, Morgenwäsche und Ankleiden. Die Tür zum Badezimmer war zu und ich hab mich auf sein Bett gesetzt und wartete. Da hörte ich, wie die Pflegekraft leise sang. Irgendwelche italienischen Song. Ich kannte sie nicht. Dann höre ich meinen Vater: „Das ist aber schön.“ Darauf die Pflegekraft: „Ja? Dankeschön. Vielleicht sollte ich zu Deutschland sucht den Superstar gehen. Aber nur wenn Sie mitkommen und mich im Publikum anfeuern.“ Dann höre ich die beiden lachen und die Pflegekraft singt weiter. Mit trieb es die Tränen in den Augen. Was sind das für tolle Menschen, die ihre Arbeit, und ja es ist ihre Arbeit, so liebevoll erledigen.

Nach all den Enttäuschungen, die wir mit anderen Pflegediensten, Sozialdiensten und Mitarbeitern anderer Heime erlebten, ist das hier jetzt wie ankommen. Dabei möchte ich nichts beschönigen. Die Pflege meines Vaters ist nicht einfach, aber sie bekommen das dort hin. Sie wollen es hinbekommen und tun ihr Bestes dafür. Jeder auf seine Weise und natürlich manchmal auch nicht so ganz wie wir uns das vorstellen. Da hat der Papa zum Beispiel den zweiten Tag hintereinander dieselbe Hose an. Die war allerdings an Tag eins schon sehr dreckig. Klar, das gefällt der Mama nicht. Mir auch nicht wirklich. Aber so what. Mein Vater sitzt fröhlich in seinem Stuhl. Lächelt uns an, wenn wir kommen, oder winkt sogar. Und auf die Frage „Geht es dir gut?“, antwortet er mit „Ja klar!“

Schritt für Schritt

So, aber das Beste hab ich euch noch nicht erzählt: Mein Papa läuft wieder. Ja, ihr lest richtig. Mein Papa läuft wieder. Etwa drei Wochen nach Absetzen des Medikaments passierte es auf einmal. Und es ging Schlag auf Schlag. Eben lief er noch in Rückenlage. Zwei Mann mussten ihn mit vereinten Kräften in der Senkrechten halten und niemand hat geglaubt, dass er das noch mal hinbekommt. Doch unser alter Kämpfer lehrte uns eines Besseren.

Zwischenzeitlich ist er wieder recht mobil. Läuft mittlerweile auch schon wieder alleine in der Gegend rum. Und nicht nur wir, sondern auch die Pflegekräfte freuen sich. Ja sie freuen sich mit uns. Wenngleich die erneute Mobilität meines Vaters auch bedeutet, dass er jetzt wieder sturzgefährdet ist und natürlich bedeutet seine Mobilität auch Mehrarbeit für die Pflegekräfte. Aber dennoch, sie freuen sich mit uns.

Tagsüber trägt er jetzt einen Helm. Falls er stürzt, damit wenigstens sein Kopf geschützt ist. Nacht steht er jetzt auch manchmal auf und läuft rum. Dann halt ohne Helm. Naja, vollkommene Sicherheit gibt es einfach nicht. Aber Hauptsache er hat wieder ein Leben. Ein Leben innerhalb der Grenzen, die die scheiß Alzheimer ihm und uns vorgibt. Aber immerhin ein Leben. Nicht so wie zuvor, ein durch Tabletten künstlich hergestellter Dämmerzustand.

Kleines Glück

Ja, und da sind wir wieder beim Thema. Unser scheiß Pflegesystem lässt im Grunde keine andere Möglichkeit offen, als verhaltensauffällige Demenzpatienten mittels Medikamenten ruhig zu stellen. So wird gearbeitet und das finde ich gelinde gesagt zum Kotzen. Dass es andere Möglichkeiten gibt, sehen wir hier in diesem Heim, in dem mein Vater jetzt lebt. Und ich kann euch gar nicht oft genug sagen, wie dankbar ich dafür bin. Allerdings ist das vielerorts anders. Das komplette Pflegesystem ist anders und du musst echt Glück haben, wenn du so eine Einrichtung findest. Wir hatten und haben das Glück.

Wenngleich ich mir bewusst bin, dass auch andere Zeiten anbrechen werden. Es wird nicht immer alles gut sein. Nein, der Weg geht eigentlich nur in die eine Richtung, bergab. Im Moment läuft es gut. Mein Paps nimmt wieder am Leben teil. Lacht mit uns, spricht mit uns, läuft mit uns. Neulich haben wir alle zusammen bei ihm auf der Terrasse Pizza gegessen. Das war so schön. Und diese Momente genieße ich aus tiefstem Herzen. Und wenn sich dann mein Hund Herta an den Papa kuschelt. Er sie seit langer, langer Zeit zum ersten Mal wieder wahrnimmt und ihr sanft übers Fell streichelt. Dann bin ich einfach nur glücklich.

Vor ein paar Tagen hat eine Freundin zu mir gesagt „Herzlichen Glückwunsch Tanja.“ Hä, ich wusste gar nicht, was sie meint. Ich hatte weder Geburtstag noch im Lotto gewonnen. Deshalb schaue ich sie dementsprechend fragend an. „Du hast dafür gekämpft, dass das Lorazepam abgesetzte wird. Du hast für deinen Paps gekämpft und gewonnen. Das ist toll!“ … und mir fließen die Tränen übers Gesicht…

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