Gestern war ich bei meinem Vater im Seniorenheim. Fröhlich haben wir die gute Stube von Demenz-WG Nummer 1 im Heim meines Vaters betreten. Da müssen wir immer durch, um in den Wohnbereich der zweiten Demenz-WG zu kommen. In jeder Gruppe leben 14 Menschen zusammen. Also 28 demente Menschen, in einem Heim mit insgesamt 76 Bewohnern. Das ist mehr als ein Drittel der Bewohnen und damit gleichzeitig auch der beste Spiegel unserer Gesellschaft. Es werden immer mehr. Das einfach mal so zum darüber nachdenken und sacken lassen.
Was ich eigentlich erzählen will. Wir betreten also den die gute Stube und mir fällt direkt auf, Frau – ich nenne sie mal – Müller ist nicht da. Ihr Platz ist leer. Ich denke mir zunächst nichts dabei, vielleicht schläft sie gerade oder ist irgendwo im Haus unterwegs. Doch dann sagt mir meine Mutter, dass Frau Müller tags zuvor gestorben sei. Ich kann es nicht fassen. Klar, weiß ich, dass das hier die letzte Etappe aller Bewohner ist. Aber Frau Müller? Sie war doch noch so fit und lustig, hat sich immer riesig über meine Herta gefreut, wenn ich sie dabei hatte. Und wollte immer, dass ich mit dem Hund zu ihr komme. Was ich dann auch tat. Außer bei meinem letzten Besuch und das tut mir heute sehr leid. An diesem Tag hatte ich nicht viel Zeit und musste schnell weiter. Jetzt ist es zu spät. Frau Müller ist nicht mehr da.
Ein Gehen und Kommen
Mein Vater ist nun seit 5 Monaten in diesem Heim und allein im Demenz-Bereich sind in dieser Zeit schon 2 Bewohner gestorben. Beide waren bis kurz vor ihrem Tod noch verhältnismäßig aktiv. Frau Müller hat noch relativ flüssig gesprochen. Der andere, ein direkter Zimmernachbar meines Vaters, bei dem hat der Sterbeprozess ein paar Tage gedauert und man konnte sich irgendwie darauf einstellen, war vorbeireitet, hat damit gerechnet. Als dann aber bereits ein paar Tage nach dem Tod des Mannes ein neuer Bewohner einzog, das leere Bett wieder belegte, das brachte mich schon zum Nachdenken. Wie nah hier doch der Tod ist und wie, ja fast selbstverständlich, man hier damit umgeht. Selbstverständlich, wahrscheinlich aus Eigenschutz. Aber auch würdevoll. Jeder der Toten bekommt einen Erinnerungs-Bilderrahmen, der zentral im Haus aufgestellt wird und an die Verstorbenen erinnert. Das finde ich sehr schön.
Die Regenbogenbrücke
Der Tod gehört zum Leben. Er rundet es ab. Für gläubige Menschen ist er auch Nachhausegehen, ein Neubeginn. Was ist er für mich? Ich bin nicht gläubig und kann damit auch ehrlich gesagt nichts anfangen. Ich hadere häufig mit dem christlichen Glauben. Ich bekomm das nicht auf die Reihe, dass all das Schlechte und die Gewalt auf der Welt einen tieferen Sinn haben soll. Ich denke mir immer: Wenn es einen lieben Gott wirklich gibt, warum lässt der dann das alles zu? So viel Prüfungen kann der Mensch doch gar nicht bestehen. Vielleicht habe ich das auch nicht richtig verstanden. Aber ehrlich, ich will es auch nicht verstehen.
Ich finde dies Vorstellung der Regenbogenbrücke so wunderbar. Das ist die Brücke über die sterbende Tiere gehen. In ein Land hinterm Regenbogen, wo sie wieder gesund, schmerzfrei und fröhlich herumtoben können. Dort möchte ich auch einmal hin und hoffe, dass ich dort alle meine Lieben, ob mit vier oder zwei Beinen, irgendwann wiedersehe. Diese Vorstellung gefällt mir. Und ich weiß, dass alle, die einmal von mir/uns gegangen sind, solange ich noch hier auf Erden bin, in meinem Herzen und in meiner Erinnerung weiterleben. Sie sind überall dort, wo auch ich bin. Ein Mehr an Glauben brauche ich nicht.
Carpe Diem
Und trotzdem habe ich mit diesem leeren Stuhl zu kämpfen, auf dem ich nun 5 Monate lang Frau Müller habe sitzen sehen. Als wir an diesem Tag wieder nachhause gehen, führt unser Weg natürlich wieder durch die gute Stube von WG 1 und da sitzt auf einmal der Mann, der neu im Heim ist, auf Frau Müllers Platz und mir wird klar: Das Leben geht weiter, die Erde dreht sich. Irgendwann sind wir alle nicht mehr da. Also nutze die Zeit. Carpe Diem. Lass uns leben, lieben und lachen!
Lass mir meine Persönlichkeit
Und was macht mein Paps? Er sitzt da und liest in seinen Lieblingszeitschriften. Die hat er seit Jahrzehnten abonniert und wie haben hunderte davon im Keller. Immer wieder bringen wir ihm welche mit und mittlerweile liest die halbe WG darin. Sie fragen sogar danach. Es ist schön ihn so zu sehen. Irgendwie zufrieden. Auch wenn sein Zustand aktuell wieder sagen wir mal, zeitweise etwas bockig ist. Sagen zumindest manche Pfleger. Ich kann das nicht wirklich erkennen. Naja, wenn sich dieser Zustand nicht wieder legt, versuchen wir es vielleicht doch einmal mit Cannabis, beziehungsweise Hanföl. We’ll see.
Die ersten Schritte in diese Richtung sind gemacht. Und wir möchten ja alle, dass es ihm gut geht, dass es nicht angespannt, sondern möglichst entspannt die Tage bestreiten kann. Nachts schläft er gut, sagt man mir im Heim. Also können wir doch erst mal zufrieden sein. Wenn er dann zwischendurch mal bockig ist, dann ist das halt so. Das gehört zum Krankheitsbild und auch zu seiner Persönlichkeit dazu. Das können wir nicht irgendwie wegwischen oder ausmerzen. Das macht ihn aus. Und wenn er seine Zeitschriften hat zum Lesen oder mit uns in der Cafeteria auf den Tischen herumtrommeln kann, dann geht es ihm gut. Das ist es, was ich ihm wünsche.
Heute wird gelebt
Die Wünsche und Ansprüche werden klein, wenn einem das Leben eine Krankheit beschert. Ist es Krebs, dann möchtest du wieder gesund werden. Ist es Alzheimer, dann möchtest du noch möglichst lange am Leben teilhaben, schöne Dinge erleben. Und was schön ist, das bestimmt der Mensch mit Alzheimer, nicht das Umfeld. Das versuche ich jeden einzelnen Tag für meinen Paps umzusetzen. Ich möchte ihm noch ein schönes Leben ermöglichen, in dem Rahmen, in dem es die Umstände für ihn und für uns zulassen. Dafür tu ich alles, damit ich am Ende, wenn dann einmal sein Platz leer bleibt, sagen kann: „Tschüß, mach’s gut, es war schön.“ Und ich wünsche mir auch, dass er dann dasselbe denkt … vielmehr noch, dass er genau das auch empfindet. Ich wünsche mir, dass er einmal ruhig und zufrieden loslassen kann. Doch bis dahin gilt das Motto: HEUTE WIRD GELEBT! – und zwar an jedem einzelnen Tag…
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