52. Schlechtes Gewissen

Die Tage vergehen wie im Flug. Der Januar war vollgepackt mit Arbeit. Und der Februar sieht nicht viel anders aus. Trotzdem versuche ich regelmäßig meinen Paps zu besuchen. Und doch schaffe ich es nicht immer, so wie ich es gerne möchte. Mal stört eine Erkältung, mal kommt ein Kunde oder Auftrag dazwischen. Hin- und Hergerissen zwischen Müssen und Wollen, zwischen Herz und Verstand macht es sich breit – mein schlechtes Gewissen.

Ein treuer Geselle, dieses schlechte Gewissen, immer an meiner Seite, ob ich will oder nicht. Ein unliebsamer Begleiter, dieses schlechte Gewissen, seit ich denken kann, kreuzt es immer mal wieder meinen Weg. Eigentlich ganz gut auszuhalten. Doch seit mein Vater so schwer krank ist, weicht es nicht mehr von meiner Seite und belastet bisweilen sehr.

Nur einmal noch…

Jammer ist nicht meine Art. Ich packe die Dinge lieber an, versuche stets das Beste aus all dem Mist hier zu machen. Und doch bremst dieses unsägliche schlechte Gewissen mich immer wieder aus. Es lähmt mich manchmal so sehr. Da möchte ich in diese und auch in jene Richtung rennen. Und komme doch nicht vom Fleck.

Es sind tausend Dinge zu erledigen. Krankenkasse, Pflegeheim, Entscheidungen, die unser Haus betreffen und, und, und. Dinge, die früher mein Paps entschieden hat. Heute mach das ich. Wie oft wünsche ich mir, ihn doch nur noch einmal fragen zu können. „Paps, wie würdest du das jetzt machen.“ Und dann mach das doch ich – allein. Naja, allein bin ich nicht. Mein Mann ist immer an meiner Seite. Aber es fühlt sich doch oft so allein und trostlos an. Wenn ich meinen Paps nur noch einmal fragen könnte, wie er dieses oder jenes entscheiden würde. Doch das geht nun mal nicht mehr…

Schlechtes Gewissen vs. Verstand vs. Herz

Und dann habe ich mal wieder eine Entscheidung getroffen. Schwupps ist es wieder da, dieses schlechte Gewissen. Es reißt mich hin und es reißt mich her. Hätte ich es anders entscheiden sollen oder war es doch richtig so? Ein Teufelskreis manchmal, bei dem mir nur mein klarer, pragmatischer Verstand, immer wieder aus der Gefühls-Patsche helfen kann. Ja, Pragmatismus und Entscheidungsfreudigkeit prägt meinen Charakter. Das hat mich bei vielen auch schon unbeliebt gemacht. Weil ich einfach entscheide und anpacke. Da fühlt sich schon mal der eine oder andere übergangen. Was natürlich nicht meine Absicht ist, aber wenn es sonst keiner macht – außer mir.

Was am schwersten dabei auf mir lastet, sind die Entscheidungen, die die Gesundheit meines Vaters betreffen. Angefangen bei den Medikamenten, die er bekommt oder auch nicht bekommt. Ich klemm mich dahinter, aber zweifle auch oft, weiß ich doch, was Medikament für grausige Nebenwirkungen bei meinem Vater zeigen können. Natürlich bespreche ich zuvor mit der Familie, doch am Ende rede ich mit dem Arzt und eine Entscheidung wird gefällt. Wie oft frage ich mich danach, ob ich auch wirklich alles richtig gemacht und vor allem, ob ich das richtige gesagt habe. Und hallihallo, da winkt es mir auch schon wieder zu, mein schlechtes Gewissen.

Dann diese unsägliche Entscheidung den Papa ins Heim zu bringen. Wie oft holt mich das nachts in meinen Träumen ein. Dieser Tag, als er dort in seinem neuen Zuhause einzog. Ja, es war das Richtige für ihn, für uns, in dieser Situation. Doch so fühlt es sich bis heute nicht an. Als er noch hier bei uns zuhause wohnte, konnte ich einfach mal so zu ihm hinunter in die Wohnung gehen. Hallo, sagen, ein bisschen Zeit mit ihm verbringen und wieder gehen. Ich konnte abends zu ihm sitzen, wir konnten ein Gläschen zusammen trinken – ich Wein oder Bier, er seinen roten Saft, den er so gerne mag – und einfach beisammen sein, reden oder auch mal schweigen. Das vermisse ich so sehr, denn heute geht das natürlich nicht mehr.

Die Zeit mit meinem Vater muss jetzt gut geplant sein. Die einfache Fahrt ins Heim dauert rund 20 Minuten. Dann noch eine Weile dort verbringen und wieder nachhause. Da ist schnell ein halber Tag verstrichen. Und abends geht er gegen 19 Uhr ins Bett, also am Abend einfach so bei ihm vorbeischauen geht auch nicht mehr.

Mein Vater ging nie gerne früh ins Bett, blieb lieber lange wacht. Im Heim ist spätestens um 20 Uhr Bettruhe angesagt. Und da kommt sie schon wieder auf die Gewissensfrage: „Habe ich alles richtig gemacht?“ „Klar“ antwortet mein Kopf. „Schau dir deinen Vater doch an, ihm geht es gut, der geregelte Tagesablauf im Pflegeheim und auch die frühen Zubettgehzeiten tun ihm gut.“ Ja, ich weiß und ich sehe das auch. Danke Kopf, doch mein Herz fühlt einfach etwas anderes.

Futter für mein schlechtes Gewissen: die Patientenverfügung

Das Nächste, was mir und uns jetzt bevorsteht, ist die Patientenverfügung. Mein Vater, war ja stets der Überzeugung, so etwas wie Krankheit oder Tod betreffe ihn nie, deshalb hat er sich auch nicht damit befasst. Prima, diese Vogelstrauß-Taktik. Einfach mal den Kopf in den Sand stecken, dann passiert auch nichts. Tja, ist leider nicht aufgegangen das System. Eigentlich müsste ich wütend auf ihn sein. Bin ich aber nicht. All die Wut, die man aus den Zeiten der Abnabelung vom Elternhaus in sich trägt, ist mit Eintritt dieser Scheiß Alzheimer-Krankheit wie weggewischt. So war und ist es zumindest bei mir. Kein Streit könnte schwerer wiegen, als die Liebe zu meinem Paps, die jetzt alles Negative nichtig macht. Hat also auch etwas Gutes, diese Krankheit. Und doch steht das Problem Patientenverfügung wie eine meterhohe Felswand vor mir. Ich kann nicht klettern, was mache ich jetzt?

Innerhalb der Familie ist bereits besprochen, dass wir im Falle eines Herzstillstandes, wiederbelebende Maßnahmen bei meinem Vater nicht möchten. Jau, soweit so gut. Doch wie sieht das alles im Detail aus? Irgendjemand müsste das jetzt mal in die Hand nehmen. Mit dem Heim reden und ein entsprechendes Formular ausfüllen. Darum kümmert sich keiner. Die Tani wird es schon richten und die Tani, das bin ich. Und da stehe ich wieder, an dem Punkt an dem ich mich hierhin und dorthin gerissen fühle. Laufe ich los und fülle das Formular aus, dann hab ich die Initiative ergriffen und mein schlechtes Gewissen meldet mir, wie kannst du nur so eine Entscheidung treffen. Dabei weiß ich ganz genau, dass mein Vater es genau so gewollte hätte. Doch zwischen „wissen was man will“ und „es schließlich wirklich tun“ liegt ein meilenweiter Unterschied – sagt zumindest mein Gewissen.

Lass ich die Sache mit der Patientenverfügung allerdings noch länger liegen und es tritt dann der Tag X ein, an dem mein Vater wiederbelegt werden muss – und er wird wiederbelebt, hängt danach vielleicht an tausend Schläuchen. Was dann? Himmelherrgott, was mein Gewissen dann zu sagen hat, möchte ich gar nicht wissen. Was also tun? Tja, ich werde mich wohl zeitnah aufraffen und auch die Dinge, die die Patientenverfügung betreffen, in die Wege leiten. Machen lautet die Devise, was sonst.

Reden ist Silber…

Natürlich werde ich versuchen, das was ich da dann entscheide, zuvor noch einmal mit meinem Paps zu besprechen, so wie ich das immer tue. Antwort bekomme ich nicht immer, also zumindest keine in Worten. Doch ich kann so oft sehen, ob und wie das Gesagt bei ihm ankommt. Also versuche ich es auch bei diesem Thema wieder. Vielleicht auch nur um mein Gewissen zu beruhigen. Wer weiß. Aber ich denke, das ist legitim.

Ich rede ja auch immer mal wieder mit ihm darüber, wie er sich hier in seinem „neuen Zuhause“ fühlt. Gestern auch. Und er hat tatsächlich zu mir aufgeschaut, gelächelt und gesagt „gut!“. Dann haben wir noch ein bisschen weiter gesprochen. Ich habe gesagt, wie schwer mir und uns die Entscheidung gefallen ist. Während ich so redete, habe ich bemerkt, wie er in sich zusammensackt ist, als wolle er mir sagen, dass auch er es sich anders gewünscht hätte. Als ich dann versuchte, die Stimmung wieder zu wenden und ihm sagte, dass es aber so für uns alle das Beste ist und dass ich mich auf jeden Fall immer darum kümmere, dass es ihm gut geht. Da wurde seine Körperhaltung auf einmal wieder aufrecht, er schaute mich einfach nur an und nahm meine Hand…

Das macht mich immer wieder froh. Ja, ich bin froh darüber, dass ich auf unterschiedlichste Art und Weise mit meinem Paps in Verbindung treten und kommunizieren kann. Das versöhnt mich dann wieder ein bisschen mit unserer Situation und beruhigt mein schlechtes Gewissen.

Denn ganz ohne schlechtes Gewissen betrachtet ist dieses Pflegeheim die einzige und beste Option, die mein Vater in seiner Situation und in seinem Gesundheitszustand hatte. Er ist dort angekommen und mit Sicherheit dort mittlerweile mehr zuhause, als er es während der letzten katastrophalen Monate in seinem eigenen Haus war.

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