53. Corona – ein Virus stiehlt uns wertvolle Zeit

Da glaubt man nach vielen Jahren mit dieser Krankheit, es kann nicht mehr schlimmer kommen. Paps ist im Seniorenheim gut untergebracht, er fühlt sich wohl dort und uns bleibt endlich Zeit auszuatmen. Und dann kommt das: Corona. Ein Virus, der im Begriff ist, die ganze Welt lahmzulegen.

Kopf in den Sand stecken und abwarten, dass es vorbeigeht, ist so gar nicht meine Art. Und doch bin ich wie gelähmt. Ja, fast geneigt, diesen, meinen Kopf ganz, ganz weit hineinzustecken in den warmen Sand am Meer, nichts weiter zu tun als den Wellen zu lauschen – soweit das mit Kopf im Sand überhaupt möglich ist – und wenn die Flut dann kommt und ich den Kopf wieder aus dem Sand heben kann, ist alles vorbei.

Nein, ist es nicht. Wir stecken mitten drin – alle!

Seit knapp zwei Wochen ist das Seniorenheim meines Vaters geschlossen. Eine Woche zuvor war ich noch im Urlaub. Also habe ich ihn fast drei Wochen weder gesehen noch gesprochen. Ja, ich weiß, es geht uns allen so. Auch denen, die noch gesunde Eltern haben, auch ihr seid getrennt von euren Eltern. Und doch ist es um so vieles anders. Ihr könnt miteinander telefonieren oder skypen. Ein WhatsApp oder eine E-Mail-schreiben. Ich kann das alles nicht.

Vor Wut und Verzweiflung darüber könnte ich schreien, alles kurz und klein hauen und mich über diese scheiß Situation so dermaßen aufregen, all die Verzweiflung raus lassen. Doch was wird es mir bringen. Nichts.

Das große Nichts

Und genau das ist es, das große Nichts, das mich befällt. Ich hab Ideen, wie ich mir, uns, meinem Paps helfen kann. Ich möchte ihm eine schöne Playlist zusammenstellen, alle seine Lieder auf SD-Karte speichern und sie ihm mitsamt einem Mini-Radio ins Seniorenheim bringen. Dann kann er wenigsten die Lieder hören, die wir sonst gemeinsam hören. Wenigstens das, wenn wir schon nicht bei ihm sein können. Doch ich bin wie gelähmt. Brauche über eine Woche, bis die Playlist endlich steht, denn bei fast jedem Song, kommen mir die Tränen und ich kann nicht weitermachen.

Was macht dieser Virus und der damit verbundene Besuchstopp mit den Menschen im Heim und mit ihren Angehörigen. Gestern habe ich einen Beitrag im Fernsehen gesehen, da ist ein Mann zu seiner Frau ins Heim gezogen, nur um bei ihr zu sein. Ein Leben und wenn auch nur ein paar Wochen ohne sie, konnte und wollte er sich nicht vorstellen. Also zog er bei ihr ein und damit auch in die völlige Abschottung. Die Tränen liefen mir bei diesem Bericht nur so übers Gesicht. Wie groß kann Liebe sein…

Und die mag es den alten Menschen gehen dort im Heim. Auf einmal abgeschottet von ihren Lieben. Diejenigen, die noch in der Lage sind sich auszudrücken, haben die Möglichkeit, sich mitzuteilen, haben die Möglichkeit zum Austausch. Doch was ist mit all den Alzheimer- und Demenzkranken? Die meisten haben die Worte verloren. So sind gerade sie doch auf emotionale und körperliche Nahe ganz besonders angewiesen, Ich hoffe inständig, dass die Pflegekräfte sich ihnen jetzt ein wenige mehr widmen als sonst. Doch wie soll das gehen, jetzt im Ausnahmezustand, wo doch schon im Normalzustand die Zeit knapp ist. Ich weiß es nicht und hoffe doch, dass es irgendwie funktioniert.

An dieser Stelle auch ein großes Dankeschön an alle Pflegekräfte. Ich weiß, ihr tut euer Bestes, habt selbst Kinder zuhause, die nicht in die Schule oder in den Kindergarten gehen können, weil die wegen Corona geschlossen sind. Ihr habt selbst Eltern, die ihr nicht mehr besuchen dürft, habt alle euer Päckchen, eure Ängste und die Ungewissheit zu tragen. Und jetzt lastet auch das noch auf euch. Danke dafür ❤

Besuch am Fenster

Und endlich: Heute ist die Playlist fertig, ich hab es tatsächlich geschafft. Und dann schneit uns auch noch eine weitere gute Nachricht in Haus: Wir dürfen Papa besuchen. Zwar nur durchs Fenster. Wir außen, er innen, aber immerhin. Wir dürfen ihn endlich wieder sehen.

Als erstes geht meine Mutter zu ihm. Doch die Freude währt nicht lange, denn Papa reagiert am Fenster überhaupt nicht auf sie. Sie hat ein Video von ihm gemacht. Er sieht gut aus. Doch er starrt nur ins Leere. Die Krankheit nimmt ihren Verlauf. Das ist deutlich zu sehen und kaum auszuhalten.

Geknickt kommt sie wieder nachhause und ich muss all meine positiven Kräfte aufbringen, um ihr Mut zu machen. Leider glaube selbst nicht an meine Worte, denn ich bin einfach nur tieftraurig, verzweifelt und wütend – immer und immer wieder.

Was ist das für ein unfaires Schicksal, dass uns durch diesen scheiß Alzheimer schon viel zu früh und Stück für Stück den Vater nimmt. Jetzt beraubt es uns auch noch der letzten wertvollen Zeit mit ihm. Und dann gesellt sich zu dieser unsagbaren Traurigkeit und Wut auch noch die Angst, die Angst vor dem Virus, die Angst davor, dass mein Vater das alles nicht überlebt. Die Angst selbst krank zu werden, die Angst, dass mein Mann krank wird … Tausend Gefühle, die über uns alle hereinbrechen und ich weiß nicht wohin damit.

Hilf dir selbst

An einen Gott kann ich schon lange nicht mehr glauben. Wenn demnächst irgendjemand mit den Worten „es liegt nicht in unserer Hand“ oder „Gott wird es schon richten“ daher kommt, den haue ich ungespitzt in den Boden. Was ist das denn für ein Gott, der dieses Chaos auf der Welt zulässt, der Kriege zulässt, zum größten Teil Glaubenskriege (diese Tatsache sollte man sich mal auf der Zunge zergehen lassen), der zulässt, wie wir mit unseren Tieren umgehen, der zulässt, wie wir mit unserer Natur umgehen…

Ich glaube aber an mich, an uns, an die Kraft des Zusammenhalts. An die Menschen, die mit anpacken, die einander helfen und füreinander da sind. An diejenigen die selbst anpacken. Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott – das ist das Einzige, was ich noch irgendwie nachvollziehen kann. Also helfen wir uns selbst. Nehmen wir den Kopf aus dem Sand und blicken wir zuversichtlich in die Zukunft, denn das ist es was ich wirklich kann. Zuversicht vermitteln.

Wo eine Tür zu geht, geht eine andere auf. Das hat mich nicht nur das Leben, das hat mich vor allem mein Vater gelehrt. Wenn es einmal nicht weiterging oder auch wenn ich nur dachte, es geht nicht weiter, dann hat er mich an der Hand genommen und aus dem Durcheinander herausgeführt, war für mich da, hat mit Zuversicht geschenkt und Mut, Mut alles anzupacken und alles zu schaffen, wenn ich nur will.

Zuversicht

Jetzt nehme ich ihn an der Hand, wenngleich auch aus der Ferne und glaube ganz fest daran, dass wir alle zusammen aus dieser Corona-Scheiße herauskommen. Der Alzheimer ist dann immer noch da, aber damit kommen wir zurecht. Solange wir alle beisammen sind, ob räumlich oder eben in Gedanken.

Morgen gehe ich zu meinem Paps und treffe ihn am Fenster. Natürlich bringe ich ihm auch seine Musik mit und hoffentlich auch wieder einen Schwung Zuversicht mit nach Hause. Alles wird gut!

4 thoughts on “53. Corona – ein Virus stiehlt uns wertvolle Zeit”

  1. Du hast es sehr treffend geschrieben. Ich denke oft an dich und deinen Vater. Meine Mutter ist am 19.02.2020 gestorben. Ich bin dankbar, dass ich sie im Krankenhaus täglich sehen durfte. Ich wäre nie darüber hinweg gekommen, wenn sie in Einsamkeit gegangen wäre. Ich hoffe inständig für euch, dass diese schreckliche Zeit bald vorüber geht.

  2. Liebe Tanja,
    Mir geht es ganz genauso. Meine Mutter ist 94 und dement. Es wird einem Zeit gestohlen und meine Mutter versteht gar nicht warum ich nicht mehr komme. Ich wechsele mich mit meinen Töchtern ab und wir rufen sie an. Manchmal klappt das unerwartet gut, aber oft ist es zum heulen. Mir bricht es jedes Mak das Herz. Und doch ist es notwendig……
    Viel Kraft dir und ich hoffe dein Papa hatte einen guten Tag und hat dich erkannt….
    Liebe Grüße Ulli

    1. Liebe Ulli, ich dachte eigentlich ich hätte dir geantwortet, aber die Antwort ist wohl irgendwo lost in Space. Das tut mir sehr leid mit deiner Mutter und ich hoffe, ihr geht es trotzdem gut in ihrem Seniorenheim. Meinem Vater geht es leider nicht so gut. Er baut so sehr ab und vor einer Woche dachten wir schon, er mache sich auf seine letzte Reise. Aber mittlerweile geht es ihm schon wieder besser. Dieses unsägliche Besuchsverbot. Ich hoffe, das wird bald auf irgendeine Weise gelockert – verantwortungsvoll den alten Menschen gegenüber, aber irgendwie gelockert. In einigen Heimen gibt es sogenannte Besuchsboxen. Das sind Container, die in der Mitte durch eine Plexiglasscheibe getrennt sind. So können auf der einen Seite die Bewohnen und auf der anderen Seite die Besucher sitzen. Man muss nur Ideen haben. Alles Gute euch!

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