Gestern war mal wieder so ein Tag. Ich habe ein Bild meiner Schwiegermutter angeschaut. Es ist mir zufällig untergekommen und hat mich total mitgerissen. Vor knapp einer Woche ist sie gestorben. Plötzlich. Nach einem schweren Schlaganfall von heute auf morgen. 80 Jahre alt. Ich denke, sie hatte ein schönes Leben, obwohl sie früh den Mann verloren hatte. Aber in den 20 Jahren, in denen ich sie kannte, machte sie einen zufriedenen Eindruck auf mich. Mit sich und dem Leben im Reinen. Und jetzt das. Zack und weg. Eigentlich schön für sie, denke ich. So möchte ich auch mal sterben. Ohne langes Leiden zuvor. Doch nun ist sie weg. Physisch. In unseren Herzen ist sie noch da und da wird sie auch bleiben. Doch auf der Bank (wie eben auf diesem Bild) vor dem Haus ihrer Tochter, in dem sie bis zuletzt wohnte, wird sie nie wieder sitzen … dieser Gedanke schneidet mir tief ins Herz und mir fließen die Tränen.
Im selben Atemzug fällt mir dann natürlich mein Vater ein. Seine Alzheimer. Sein Leben im Heim und wie gern ich ihn doch bei mir zuhause hätte. Und die Tränen fließen weiter. Noch mehr. „Der Tod gehört zum Leben“, sagt mein Mann. Ich bewundere ihn für seine Gefasstheit und den Umgang mit Krankheit, dem Leben und dem Tod. Wobei ich sehr genau weiß, wie sehr ihn der Tod seiner Mutter mitnimmt und dass auch er mit sich kämpft. Aber ja, Abschied und Tod gehört zum Leben. Recht hat er.
Abschiede
Und wieder sind meine Gedanken bei meinem Vater. Schon so oft haben wir uns von ihm verabschiedet. Damals als er damit begann unsere Namen nicht mehr zu kennen. Damals als er seine Sprache fast gänzlich verlor. Damals als er langsam begann in seine eigene Welt abzugleiten. Damals als er zuhause aus und im Seniorenheim einzog.
Und jetzt: Das wochenlange Besuchsverbot im Seniorenheim, die unbändige Angst um ihn und die Ohnmacht so gar nichts tun zu können. Dann der quälende Gedanke, dass wir ihn zuhause jeden Tag sehen könnten, wenn wir ihn nicht ins Heim gebracht hätten. Nun die Lockerungen und die Besuche auf Abstand, das Gesicht hinter einer Mund-Nasen-Maske versteckt und der unbändige Wunsch meinen Paps endlich mal wieder in den Arm zu nehmen.
Meine Schwiegermutter ist tot. Das ist der Lauf des Lebens. Sie können wir nie mehr umarmen. Das tut weh. Ist aber zu verstehen. Aber meine Paps ist noch da und es geht dennoch nicht. Vielleicht geht es bald gar nicht mehr und nun werden uns auch noch die vielleicht wenigen gemeinsamen Stunden und Umarmungen genommen. Ich bin so traurig.
Ich finde keine Worte mehr
Sinnbildlich für all das steht diese eine Situation neulich, als mein Vater Kontakt mit mir aufnahm. Das tut er häufig und wir beide verstehen uns auch ohne Sprache gut. Doch jetzt mit eineinhalb Metern Abstand und mit halb bedecktem Gesicht wird das schon schwieriger. In dieser einen Situation nun wollte er mir etwas sagen und es kam einfach nicht aus ihm raus. Er kämpfte mit sich und den Worten, den Silben und gab dann einfach auf. Oft weiß ich die Richtung, in die das Nichtgesagte gehen soll und kann adäquat antworten. An seiner zufriedenen Reaktion merke ich dann, dass ich mit meiner Antwort richtig lag.
Doch in dieser einen Situation ist mir das nicht gelungen und er zog sich enttäuscht in seine Welt zurück. In der Regel quatsche ich dann weiter und erzähle ihm dies und das oder lass schnell eines seiner Lieblingslieder laufen, so dass die Situation rasch wieder vergessen ist. Das habe ich auch in dieser Situation gemacht. Und doch hängt mir dieses eine Mal, wo ich nicht verstand, was er meinte, was er mir sagen wollte oder gar, was er von mir wollte, so dermaßen nach, dass ich es auch heute, viele Tage später noch nicht verarbeitet habe – und es tut immer noch weh.
Du darfst traurig sein
Wie schnell einen die Gedanken und Gefühle im Zusammenhang mit dieser scheiß Alzheimer doch in die Tiefe reißen können. Das wird mir mal wieder klar. Und rasch versuche ich mich wieder zu berappeln. Versuche die schönen Momente – trotz Alzheimer – in den Vordergrund zu rücken. Normalerweise gelingt mir das ganz gut. Doch gestern, da haben mich die traurigen Gefühle einfach mit sich genommen. Und ich ließ es zu, denn ich bin davon überzeugt, dass genau dieses Zulassen wichtig ist. Ja, wir dürfen traurig sein, dürfen Verluste beweinen und den Schmerz rauslassen. Was wir nicht dürfen – und das ist für mich das Essenzielle – ist, uns der Traurigkeit und dem Gejammer ausliefern. Ja, seid traurig, lasst die Gefühle raus, denn sie gehören genauso zum Leben wie das Glück und der Abschied und der Tod, denn nur wer das eine zulässt hat auch wieder die Kraft für das andere, für das Schöne, das Glückliche und die Heiterkeit und eben das ganze schöne, traurige, fröhliche, glückliche Leben.
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