Schöne Momente und tiefe Traurigkeit liegen so nah beieinander. Immer wieder wird mir das bewusst, schmerzlich bewusst. Manchmal erfüllt mich diese Tatsache mit großer Traurigkeit, dann wieder hüpft mein Herz vor Freude und heute, ja heute war so ein Tag für alles. Freudenhüpfer und tiefe Traurigkeit.
Gegen Nachmittag gingen mein Mann, die Hunde und ich zu meinem Vater. Er saß schon in seinem Wohnzimmer an der offenen Terrassentür und wartete auf uns. Als wir ankamen keine Reaktion, er nahm uns nicht mal wirklich wahr – oder vielleicht doch? Ich weiß es nicht. Mein Mann schob ihn im Rollstuhl auf die Terrasse und ich war damit beschäftigt die Musik – Papas Playlist – einzuschalten. Auf einmal Aufregung. „Scheiße“, sagt Papa. Recht hat er, denn hinter seiner Brille hat sich eine Wespe verirrt. Geistesgegenwärtig nimmt ihm mein Mann die Brille von der Nase und die Wespe schwirrt davon, ohne Schaden angerichtet zu haben.
Oh Mann, das hätte auch ins Auge gehen können, denke ich und setzte meinem Paps die Brille wieder auf. Natürlich nicht ohne ihm vorab zu sagen, was ich tue. Das ist so wichtig, denn ich finde es respektlos, wenn man ihm einfach die Brille ins Gesicht knallt. Dann setze ich mich zu ihm, streichle ihm über seine abgemagerten und kraftlosen Beine, er schaut mich an, ein Lächeln huscht über sein Gesicht und er sagt „Hallo Schätzele“ ? …. Schätzele, das hat er immer zu uns gesagt. Früher schon, als er unsere Namen noch kannte, und später, als ihm unsere Namen bereits entglitten waren, machte er das auch. Für mich heute ein Herzsprung-Moment, denn Schätzele hatte ich schon lange nicht mehr von ihm gehört.
Den ganzen Nachmittag über war er sehr gesprächig. Mit Micha hat er viel geplappert. Als ich mit einem Pfleger sprach und wir über die frühere Arbeit meines Vaters sprachen, sagte ich: „Gell, Paps, du warst mal ein hohes Tier.“ Und ein breites, stolzes Grinsen zeigte sich in seinem Gesicht. Ja, er war ein hohes Tier und jetzt sitzt er hier, mit seinen knapp 73 Jahren im Rollstuhl, inkontinent, das Essen muss ihm gereicht werden und die Sprache ist ihm auch verloren gegangen. Wusch. Mit voller Wucht holt es mich wieder zurück in die Realität.
Steigende Fallzahlen
Ich lege ihm die Hand auf den Unterarm und lächle ihn an – mit meinen Augen, denn den Rest von meinem Gesicht sieht er ja dank Maske nicht. Und er lächelt zurück. Für den Moment bin ich glücklich. Im nächsten Moment schweifen meine Gedanken davon und mir wird schmerzlich bewusst, wie kostbar diese Momente der Nähe sind. Nicht nur nach dem langen Lockdown und nicht nur in dem Bewusstsein, dass das hier jetzt wirklich der letzte Lebensabschnitt meines Vaters ist. Auch in dem Bewusstsein, was gerade auf der Welt passiert. So viele Menschen, die Urlaub machen, die das Virus in Umlauf bringen, steigende Fallzahlen als Folge und für uns die steigende Gefahr, dass diese schönen Momente der Nähe, unsere vielleicht letzten Moment der Nähe, bald wieder vorbei sein könnten. Warum? Weil der Mensch nicht verzichten kann, weil sein Egoismus ihn hinaustreibt in die Welt: ICH MUSS URLAUB MACHEN. Hey, kann ich da nur sagen: Warum könnt ihr nicht einmal verzichten? Ihr gefährdet mit eurer „Ich brauche aber einmal im Jahr Urlaub im Ausland“-Mentalität den vulnerabelsten Teil unserer Gesellschaft und setzt damit nicht nur unsere wenigen schönen und so wertvollen Momente der Nähe aufs Spiel. Das macht mich traurig. Doch meinen Paps lächle ich an und bin einfach nur glücklich, dass dieses einstmals hohe Tier mich heute Schätzele genannt hat.
Selbsterfüllen Prophezeiung
Dann bringt der Pfleger das Essen, nun dürfen wir Angehörigen meinem Paps das Essen reichen. Seit kurzem ist das wieder möglich, fragt sich nur wie lange noch. Heute übernehme ich die Essensgabe und schwupp, hat der Papa sich verschluckt. Das war wohl mal wieder die selbsterfüllende Prophezeiung. Ich bin nämlich sehr unsicher dabei, ihm das Essen zu reichen. Habe Angst, dass er sich verschluckt. Und was passiert. War nicht schlimm, ich hatte ihm die Medikamente ins Essen gegeben und dabei hat es wohl ein bisschen im Mund gestaubt. Ja, Shit. Ich allerdings war so erschrocken, dass mein Mann weitermachen musste. Der ehemalige Altenpfleger-Zivi macht das viel routinierter als ich. Ein bisschen ärgere ich mich, dass ich so unsicher und ängstlich bin. Dann bin ich mir aber schnell nicht mehr böse, denn mein Paps hat mir all diese Ängste implantiert. Diesen Schuh muss er sich anziehen. Tja, und ich muss damit leben. Ich bin quasi tagein tagaus damit beschäftigt Ängste zu überwinden, für die mein Paps aufgrund seiner häufig übertriebenen Fürsorge die Basis in mir gelegt hat. Aber ich bin auch ihm nicht böse, macht mich doch diese immer wiederkehrende Herausforderung stärker und stärker. Wie kann ich ihm auch böse sein, hat er doch alles aus Liebe getan. Er wollte mich beschützen. Und das hat er auch immer gemacht. Und darüber bin ich froh, denn er war immer mein Rückzugsort, meine Festung, die mir Sicherheit gab in schwierigen Situationen. Heut versuche ich ihm diese Bastion zu sein und das mit dem Essen reichen muss ich eben noch ein bisschen üben ?.
Letzte Etappe
Nach dem Essen zog mein Vater dann immer wieder die Nase hoch. Das macht er schon ein Leben lang. Wenn ein bisschen Schleim irgendwo dahinten hockt, dann muss der erst hochgezogen und dann rausgehustet werden. Heute hatte mein Paps keine richtige Kraft den Schleim abzuhusten und mich überkommt auf einmal die blanke Angst. Je weiter der Alzheimer fortschreitet, umso schwieriger wird das Schlucken (mein Paps bekommt schon passierte Kost) und umso schwieriger wird auch das Abhusten. Ein kleiner Infekt, kann da dann schon das Todesurteil sein. Eine Erkenntnis, die mir Tränen in die Augen treibt und die Kehle zuschnürt. Mein Herz ist schwer. Und was macht Papa, er lacht mich an und schein glücklich, dass wir bei ihm sind. Da gibt mir so viel und treibt meine Sorgen und Ängste davon. Ja, mein Paps ist krank und ja, er muss vermutlich bald sterben. Aber heute, heute noch nicht. Heute sitzen wir gemeinsam auf seiner Terrasse und genießen einen der wahrscheinlich letzten warmen Sommertage des Jahres, erzählen uns Geschichten von früher, lachen und leben im Moment – unserem Moment des kleinen, wertvollen Glücks. Unser Zusammensein. Ich liebe dich Paps und hoffe darauf, dass uns noch viele solcher Momente vergönnt sind. Vielleicht haben wir ja Glück…
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