65. Er ist wieder da

Anfang September ist mein Paps das erst Mal in die Klink eingewiesen worden mit akutem Nierenversagen. Darauf folgte ein wochenlanges Auf-und-Ab. Heute am Samstag den 24. Oktober ist er seit einer Woche wieder zurück in seinem Zuhause, zurück im Seniorenheim und wieder einmal ist nichts wie es zuvor war. Aber von vorn…

In den ersten zehn Tagen in der Klinik, haben ihm die Ärzte zwar das Leben gerettet, die Pflege hat allerdings auf ganzer Linie versagt. Nach diesen zehn Tagen klaffen auf seinem Rücken und Gesäß sowie an den Oberschenkeln außen insgesamt drei Dekubitus. Er hat sich im Krankenhaus massiv wundgelegen und diese Wunden haben ihn noch zweimal zurück in die Klinik gebracht. Einmal erneut mit unterirdischen Blutwerten, sodass sogar eine Bluttransfusion nötig war. Das zweit Mal mussten seine Dekubitus operativ behandelt werden. Was für eine Tortur. Zum Glück geht alles gut.

(K)ein Dilemma

Doch dann kommt wieder die Magensonde ins Gespräch. Während die einen Ärzte meinen Vater quasi aufgegeben haben und ihn sterben lassen möchten – ja, ich muss es so krass sagen, denn im Prinzip hat man es uns auch genauso krass ins Gesicht gesagt – sehen die anderen (allen voran seine Hausärztin) den Kämpfer, der trotz aller Umstände und Einschränkungen durch die Alzheimer-Erkrankung, noch einen unbändigen Lebenswillen besitzt. Ich sehe das genauso. Bin aber auch seine Tochter und möchte meinen Paps noch so lange wie möglich bei mir haben.

Ein Dilemma, wieder einmal. Wie sollen wir entscheiden. Magensonde (PEG) oder nicht. Klar ist, ohne diese Sonde, wird er sterben, aber nicht, weil er so krank ist, sondern weil sein Körper die Wundheilung nicht mehr packt. Mit PEG ist er auf jeden Fall mit den erforderlichen Nährstoffen versorgt, sodass sein Wunden heilen und er wieder Lebensqualität zurückgewinnen kann.

Pah, Lebensqualität. Ist das noch Lebensqualität, wenn man nicht mehr reden, sich nicht selbständig waschen oder gar selbständig Essen kann. Dazu sei gesagt: Mein Vater isst noch ganz normal. Man muss ihm nur das Essen reichen.

Also haben wir uns – auch bestärkt durch die Hausärztin meines Vaters und ihre wirklich einfühlende Begleitung und Beratung – für eine Magensonde entschieden.

Kleinigkeit, die dein Herz erfreut

Und siehe da – ab diesem Zeitpunkt ging es bergauf mit meinem Vater. Er bekommt einmal am Tag nährstoffreiche Ernährung über die Sonde und auch Flüssigkeit. Ansonsten isst und trinkt er völlig normal und was noch viel wichtiger ist, er hat Appetit. Und dann kommt es zwischendurch zu Sonnenscheinmomenten wie diesen. Wenn die Pflegekraft das Zimmer betritt und meinem Paps die Schmerzmedikation bringt. Die bekommt er in flüssiger Form in einem kleinen Becherchen. So groß wie ein Schnapsgläschen. Manchmal wenn meine Mama es ihm gibt, dann trinkt er es und sagt danach „Pfui Teufel“. Schmeckt anscheinend scheiße ?. Aber zurück zu der Pflegekraft, die also neulich das Zimmer betritt mit dem Schnapsgläschen in der Hand und dann sagt: „Hier kommt das Pfui Teufel“. Wie heißt es so schön: Kleinigkeit, die dein Herz erfreut!

Der alte Kämpfer will noch nicht gehen

Man mag über eine PEG denken was man will. Doch eins weiß ich jetzt, es ist ein Für und Wider, das wirklich ausführlich abgewogen und beratschlagt werden muss. Im Fokus sollte dabei immer die Frage stehen: Was hätte der Mensch gewollt, den es betrifft. Und das ist wirklich eine Hammer-Herausforderung. Lange haben wir beraten. Waren weit weg davon. Bei einem klaren NEIN. Dann wieder der Blick auf den Vater, der mit dem Tode rang und zurückgekommen ist. Im Gedächtnis bleibt mir dabei vor allem der eine Tag, an dem mein Paps mehr tot als lebendig in seinem Krankenhausbett lag und ich zu ihm sagte: „Wenn du nicht mehr kannst, dann lass los.“ Ich – an diesem Tag – in der sicheren Überzeugung, dass sich mein Vater demnächst auf den Weg macht. Und dann saß er am nächsten in seinem Bett, lachte mich an und wurde zwei Tage später nachhause entlassen. Bähm. Der alte Kämpfer will noch nicht gehen!

Es folgten noch zwei weitere Krankenhausaufenthalte, eine bereits systemische bakterielle Infektion und eine Bluttransfusion – all das hat er weggesteckt, hat uns gezeigt: hey, ich bin noch nicht fertig hier. Wer bin ich, ihm die beste Versorgung zu verwehren, die er bekommen kann. Also kam nach weitern Gesprächen mit Ärzten, die einen pro PEG, die anderen dagegen und nach intensiven Gesprächen innerhalb der Familie dann das JA von uns. Wir machen das mit der Magensonde, denn obwohl mein Vater uns seine Haltung zu einer Magensonde nie mitgeteilt hat, sind wir übereingekommen, dass auch er immer jede Chance, die sich ihm bot, genutzt hat und auch diese genutzt hätte. Stand heute kann ich sagen: In dieser, unserer ganz eigenen und individuellen Situation ist es gut so.

Die Würde des Menschen

Ich vermute, nein ich weiß, viele werden spätestens jetzt den Kopf schütteln. Wir kann man das einem Menschen antun? Eine Magensonde. Lasst ihn doch in Würde sterben. Ja, das lassen wir. Ich sehe nicht, dass ich ihm mit einer PEG die Würde nehme. Vielmehr gebe ich / geben wir ihm damit die Chance, noch eine Weile hier zu bleiben, wenn er mag, und nicht an einem Dekubitus zu sterben. Und wenn mein Paps dann irgendwann in naher oder fernen Zukunft beschließt zu gehen, dann kann er das auch mit dieser Magensonde, denn entgegen der landläufigen Meinung ist eine Magensonde keinesfalls eine künstliche, erzwungene Lebensverlängerung. Die Menschen sterben auch mit PEG. Und mein Vater darf das auch tun, wenn es soweit ist, aber heute ist es noch nicht soweit.

Oh, was hatte ich für eine Angst vor dieser OP, bei der die Sonde gesetzt wird. Es handelt sich dabei nur um einen kleinen Eingriff. Sie wird im Rahmen einer Magenspiegelung gesetzt, und eine Magenspiegelung hatte bestimmt fast jeder schon einmal. Dennoch hatte ich eine riesige Angst. Was, wenn Paps bei diesem Eingriff stirbt? Was, wenn sich die Sonde entzündet? Was, wenn … Was, wenn … Was, wenn … Diese Angst hat mich ausgelaugt, hat mich schier aufgefressen. Es ist schon so, dass wir alle entscheiden, gemeinsam, aber auf der Zustimmung zur OP steht mein Name, steht meine Unterschrift.

Auf die Zwischentöne achten

Ein paar Tage vor dem Eingriff habe ich meinem Vater ausführlich erzählt, was wir vorhaben. Er hat mir aufmerksam zugehört und dann meine Hand ganz fest gedrückt. Ich habe das als Zustimmung interpretiert, denn wenn er etwas doof findet, kann er nach wie vor sehr aufgebracht reagieren, häufig in Kombination mit dem Wort „Scheißdreck“. Das kam nicht. Dafür ein fester Händedruck und ein entspannts Ausatmen. Wenn ein Mensch nicht mehr oder nur noch wenig spricht, dann kann man lernen seine Körpersprache zu interpretieren. Dabei achtet man dann auf die Atmung, auf die Bewegungen von Händen und Füßen und natürlich auch auf die Mimik, die bei einer Demenz allerdings ebenfalls sehr eingeschränkt ist, aber ein aufmerksamer Beobachter, erkennt die Zwischentöne, die kleinen, aber feinen Informationen, die in all dem stecken. Und ich glaube, mein Paps und ich verstehen uns gut.

UND MANCHMAL, MANCHMAL ANTWORTET ER SOGAR. SO WIE NEULICH, ALS ICH IHM VERSPRACH, DASS ICH MICH UM ALLES KÜMMERE UND DIE DINGE IN SEINEM SINNE VERSUCHE ZU REGELN. DA KAM DANN EIN DEUTLICHES „JA, OKAY“ AUS SEINEM MUND. ZWEI WORTE, DIE MICH MIT EINER UNFASSBAREN DANKBARKEIT ERFÜLLTEN.

Corona macht es nicht einfacher

Ja und heute, eine Woche nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus und knapp 2 Wochen nach der Magensonde-OP, war ich wieder bei meinem Paps im Heim. Corona-bedingt sind die Besuche leider wieder weniger geworden. Meine Mama ist jeden Tag bei ihm, mit Sondergenehmigung, um ihm einmal am Tag das Essen zu reichen. Eine Entlastung für das Pflegepersonal und eine wichtige Aufgabe für meine Mutter. So kann sie etwas für ihn tun und gleichzeitig bei ihm sein. Wir Kinder gehen nur sporadisch hin. Ich im Moment nur einmal die Woche. Hängt einem doch dieses unsäglich Virus im Genick und die ständige Angst. Ich kann mich leider nicht davon befreien und deshalb war auch heute mein Besuch aufgrund der steigenden Corona-Zahlen nur eine halbe Stunde kurz. Ein Zustand der mir wieder einmal schier das Herz zerreißt. Hilft aber nichts, auch das muss ich, müssen wir aushalten.

Als ich dann aber sein Zimmer betrete, schwappt mir bereits der frische Duft von Rasierwasser entgegen und ein gut gepflegter Paps sitzt zufrieden in seinem Bett. Im Hintergrund läuft seine Musik. Ja, er ist dünn, sehr dünn, nicht viel mehr als Haut und Knochen. Doch seine Wangen sind rosig und sein Blick ist klar. Als er mich bemerkt hebt er den Kopf und lächelt. Und für mich ist dieses Lächeln viel mehr als bloße Mimik. Dieses Lächeln erfüllt mein Herz, sodass es prompt einen Hüpfer macht. Mein Paps ist wieder da, nicht nur für mich, sondern auch für sich. Er ist wieder da und er scheint zufrieden zu sein damit…

Foto: Bild von Free-Photos auf Pixabay

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