9. Ein guter Tag

Als wir heute bei meinem Vater in der Klinik ankamen, lief er ohne Hemd, nur in der Hose rum. Ihm war offensichtlich warm und er sah sehr verwirrt aus. Doch als er uns sah, erkannte er uns sofort und das Hemd war mit Hilfe meiner Mutter schnell wieder angezogen. Ich habe mich dann kurz mit der Pflegerin unterhalten und sie meinte, dass die Pflege (also waschen etc. immer noch schwierig wäre bei ihm). Andere Pfleger erzählen, dass es problemlos funktioniert. Zunächst war ich verwirrt, dann musste ich schmunzeln. Die Pflegerin ist sehr nett, um das vorweg zu schicken, aber sie hat mächtig Übergewicht und mein Vater war dicken oder übergewichtigen Menschen gengenüber schon immer sehr reserviert. Wobei man nicht vergessen darf, er wog früher selbst knapp 100 Kilogramm ?. Also war ich beruhigt und schwieg…

Brauchst du was von mir?

Dann haben wir uns den Nachmittag über ein bisschen mit den anderen unterhalten und Bilder von Herta und Paule, meinen beiden Hunden, angeschaut. Die habe ich ihm ganz groß ausgedruckt und mitgebracht. Und er hat mit den beiden geredet. Das war skurril aber auch total schön. Von Micha meinem Mann hab ich ihm Grüße ausgerichtet und auch hier wusste mein Vater sofort, von wem ich spreche. Und dann kam der Hammer. Er saß mit uns im Flur und ich bin vor ihm im die Hocke gegangen und hab ihn angeschaut. Dann meinte er: „Brauchst du was von mir.“ „Nein, sagte ich, danke. Ich habe alles was ich brauche.“ Diese Fürsorge hat mich tief im Herz getroffen. Es war irgendwie wie früher, der Vater, der dafür Sorge tragen möchte, dass es seiner Tochter gut geht. Unglaublich Dinge passieren durch diese Krankheit mit einem Menschen, aber so schrecklich das alles ist, Alzheimer schafft auch Moment großer Nähe und von einem tiefen Vertrauen, das im alltäglichen Leben fast schon verloren schien. Ich hatte die vergangenen Jahre große Probleme mit meinem Vater, war oft enttäuscht wegen seltsamen Dingen, die er plötzlich tat. Doch heut kam der Vater mal wieder durch, der im Alltag und vor allem im beruflichen Stress der vergangenen Jahre und Jahrzehnte unterging. Und dabei rede ich nicht von meinem Stress, nein ich meine den Stress meines Vaters. Er war so auf der beruflichen Erfolgs-Überholspur, dass der Familienmensch, der er eigentlich ist, verloren schien. Jetzt ist er wieder da, wenn auch nur in Nuancen.

Geh nicht!

Dann gab es auch noch eine Schrecksekunde. Die Blutdruckmessung ergab einen Wert von 84 zu 47 und Puls 170. Konnte das sein? Auf einmal war etwas Aufregung im Saal, die sich aber schnell wieder legte. Die zweite Messung lag dann bei 105 zu 65 und Puls 57. Puh! Was ich bei mir aber bemerkte war eine schlagartig einsetzende Panik. Ich hatte auf einmal große Angst. Hat uns doch die Stationsärztin vollumfänglich und in ihrer bisweilen unsensiblen Art über all die Nebenwirkungen aufgeklärt, die die Alzheimer-Medikamente so mit sich bringen. Ich hatte von einer Sekunde auf die andere große Angst, ihn zu verlieren. Dabei wissen wir doch alle, dass sein Weg vorbestimmt ist und dass die Alzheimer wahrscheinlich schneller voranschreitet, als es uns lieb ist. Also vor was habe ich eigentlich Angst? Wenn ich mir dieser Frage bewusst stelle, dann wir schnell klar. Ich habe Angst um meinen Verlust. Doch hier geht es nicht um mich, hier geht es um meinen Vater, der gerade dabei ist sich selbst zu verlieren. Also wenn nun sein Körper sagt, ich kann nicht mehr, dann hat der wahrscheinlich recht. Das muss ich mir immer wieder ins Gedächtnis rufen. Die Dinge kommen wie sie kommen und doch macht mir das alles große Angst.

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