Drei Monate ist mein Vater nun im Heim. Seit einem Vierteljahr hat er eine neue Adresse. Pav2 – das ist die Abkürzung für Pavillion 2. Dort wohnt er jetzt. Dort kümmert man sich um ihn. Darauf vertraue ich. Mehr kann ich nicht tun. In diesen drei Monaten besuche ich ihn häufig. Mindestens zweimal, fast immer dreimal die Woche bin ich dort. Rede mit ihm, lache mit ihm, lebe mit ihm. Bisweilen versuche ich wie ein Glucke, die Situation im Heim zu überblicken. Schaue, ob alles gut läuft. Frage die Pflegekräfte, ob es Probleme gibt. Wahrscheinlich geh ich den meisten damit „etwas“ auf die Nerven. Aber so bin ich nun mal. Ich liebe meinen Vater und kann nicht aus meiner Haut.
Nimm dir Zeit…
Mittlerweile habe ich auch mit den anderen Bewohnern Kontakt geknüpft. Ich denke, wenn man sein Herz sprechen lässt, dann funktioniert auch die Kommunikation mit jedem dieser wunderbaren Menschen. Da ist die eine Frau, die ständig „Hilfe“ sagt. Mal lauter, mal ganz leise. Wenn ich mir kurz Zeit nehme, ihr vielleicht die Hand streichle, dann wird sie ganz still und mir scheint, sie kann sich entspannen, wenn auch nur für einen Moment. Im gleichen Moment spüre ich ihre dünne Haut unter meiner Hand, fast wie Pergament und ich denke: So fühlt sich Vergänglichkeit an.
Oder die andere, fast 100 Jahre alt und ein wahres Stehaufmännchen. Mit einem freundlichen „Hallihallo“ hole ich sie ab in ihrer Welt und wir reden ein bisschen. Manchmal streichelt sie auch meinen Hund Herta, denn sie hatte früher selbst einen Hund. In diesen Moment ist sie ganz klar – wahrscheinlich nicht im Hier und Jetzt – aber klar und ich habe den Eindruck auch ein bisschen glücklich.
Erinnerungsarbeit
Und mein Paps, was macht der? Ich hab den Eindruck, er fühlt sich wohl, dort in seinem Heim, in seinem neuen Zuhause. Wenn ich bei ihm bin, lachen wir viel. Ich habe ihm Büromaterial mitgebracht. Und damit ist er immer ganz geschäftig. Er braucht etwas zu tun, irgendetwas in den Händen, ansonsten beginnt er mit den Tischen zu ruckeln. Hat er etwas in den Händen, verschwindet auch die innere Anspannung, die diesem Tischruckeln gewiss zugrunde liegt. Und eine schöne Nesteldecke hab ich ihm jetzt auch besorgt. Ich habs nicht so mit Handarbeit, aber ich habe jemanden gefunden, der sie mit Liebe und Können von Hand gemacht hat. Diese Decke muss, nachdem er sie eine Weile bearbeitet hat, immer Ecke auf Ecke ordentlich zusammengelegt sein, dann ist er zufrieden.
Ja und dann hat mein Paps über Jahre ganze Aktenordner angelegt, in denen er minutiös festgehalten hat – in Schrift und in Bildern – was er getan und erlebt hat, wohin er mit seiner Frau verreist ist, was er beruflich gemacht hat, welches Familienfest wir gefeiert haben. Diese Ordner bringe ich manchmal mit. Aufgrund seiner Reaktionen denke ich, dass er sich an das eine oder andere auch manchmal erinnert. So zumindest mein Eindruck. Ich nehme diese Ordner gerne mit zu ihm, denn diese Erinnerungsarbeit ist gleichzeitig auch ein Schlüssel zur Kommunikation mit ihm. Irgendein Bild löst immer irgendetwas aus und wir kommen ins Gespräch. Neulich hatte ich allerdings einen Ordner dabei, der eher bei mir als bei ihm etwas auslöste. Was darin zu sehen und zu lesen war, rührte mich zu Tränen.
Kleiner Exkurs
Über viele Jahre hatten wir ein bis heute nicht wirklich ausdiskutiertes Streitthema innerhalb der Familie: das Weihnachtsfest. Es lief bei uns eigentlich stets gleich ab. Dann gab es die Veränderung – ein Wunsch meiner Schwester. Eine Veränderung, die mir nicht gefiel. Irgendwie brauchte ich diesen immer gleichen, Jahr für Jahr wiederkehrenden Ankerpunkt. Das tat ich kund. Machte Gegenvorschläge, wie das Fest alternativ ablaufen könnte. Und galt fortan als Störenfried. Den Spruch „Leben und leben lassen“ bekam ich nicht selten um die Ohren geknallt. Schön und gut, dachte ich. Aber wer lässt mich…? Naja. Um größeren Ärger zu vermeiden, blieb ich still und der Heilige Abend verlief so, wie es sich meine Schwester vorstellte. Allerdings fühle ich mich bis heute um unser Weihnachtsfest betrogen.
Zurück zum besagten Erinnerungs-Ordner
Was ich eigentlich sagen möchte … dieser Ordner … in ihm entdeckte ich Bilder vom Weihnachtsfest im Jahr 2009, 2010, 11 oder 12 ich weiß nicht mehr genau. Darunter der Text „The same procedure as last year, but not as every year.“ Daneben dann Bilder einer Berghütte im Schnee. Ich traute meinen Augen nicht. Genau das hatte ich mir immer vorgestellt. Einmal ein Weihnachten mit der Familie auf einer Hütte in den Bergen. Mein Paps hat mir also doch zugehört, er hat verstanden. Umgesetzt haben wir es leider nicht mehr. Aber allein das Wissen darum, dass er es anders machen wollte, hat für mich so viel Versöhnliches, dass mir noch heute, beim Gedanken daran, die Tränen über die Wangen kullern. Als wir diese Seiten im Ordner durchblätterten, musste ich ihn einfach ganz fest in den Arm nehmen. Und ich bin mir sicher, er verstand.
Kuchen und Pizza
Heute am Sonntag waren wir auch wieder bei meinem Paps. Meine Mutter hat Kuchen gebacken und wir haben einen gemütlichen Nachmittag mit und bei ihm verbracht. Manchmal essen wir auch zusammen Pizza. Mir ist es einfach wichtig, zwischendurch mal was Besonderes zu machen. Ich hole dann immer meinen kleinen Bluetooth Lautsprecher heraus und lass die Papa-Playlist rauf und runter laufen. Als ich heute ankomme, frage ich meinen Paps: „Geht es dir gut?“ Er antwortet mit nein. Das passiert in letzter Zeit häufiger und ich muss dem natürlich noch auf den Grund gehen. Was bewegt ihn zu diesem Nein? Ich weiß es nicht. Aber für heute bin ich erstmal beruhigt, denn als wir eine Weile da sind, seine Musik im Hintergrund läuft und der Kuchen verspeist ist, da frage ich ihn nochmal: „Papa, geht es dir gut?“ und die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen „Ja“, ❤ pffffff…
Leben, lieben, lachen – und manchmal auch ein bisschen weinen – ist erlaubt
Doch dann … das Abendessen ist bereits vorüber, geht es allmählich ans Aufbrechen. „Wir gehen jetzt nachhause“, sage ich. „Ja, ja“ antwortet er. Scheinbar zufrieden. Mir ist das heut zu viel. Vielleicht auch, weil ich unpässlich bin. Aber dieses Nachhausgehen fällt mir heute so unsagbar schwer. Am liebsten würde ich meinen Paps einpacken und mitnehmen. Doch er lächelt mich an, als meine Mutter ihn rückwärts mit dem Rollstuhl hinein in den Gemeinschaftsraum fährt. Ich winke, drehe mich dann aber ganz schnell um und trete mit Mann und Hund den Heimweg an. Ich möchte nicht, dass er die Tränen in meinen Augen sieht …, denn heute ist wieder einer dieser Tage, an denen es mir so schwer fällt, ihn dort im Heim zurückzulassen, aber da muss ich wohl durch…
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