67. Es ist still geworden

Wieder eine schlimme Zeit überstanden. Und diese Zeit hat mich erneut eine Menge Kraft gekostet. Seltsam, wie erschöpft man sein kann, allein aufgrund psychischer Herausforderungen. September und Oktober haben wir quasi durchweg mit Papa im Krankenhaus verbracht. Danach noch der Coronaausbruch im Pflegeheim. Alles soweit gut überstanden. Mama geht täglich ins Heim und sagt, dem Papa geht es gut. Ich bin nicht so oft dort. War selbst einige Male beim Arzt, nichts Schlimmes nur Vorsorgeuntersuchungen. Danach habe ich aber immer Sorge, dass ich mir was aufgeschnappt haben und geh deshalb nicht zum meinem Paps. Mama ist ja regelmäßig dort. Das beruhigt mich.

Dann der Anruf. Sonntagabend 21 Uhr. Papa hat Fieber und eine Sauerstoffsättigung von 84. Sauerstoff wurde angelegt, Fieberzäpfchen gegeben. Fieber wieder runter und Sauerstoff nach einer halben Stunde wieder bei 95. Also erstmal Entwarnung. Notdienst ist informiert. Wir sollen die Nacht noch zuwarten. Wenn sich die Situation verschlechtert, dann kommt er ins Krankenhaus. Bleibt er stabil wird am Montagmorgen ein Antigen-Text gemacht.

An Schlafen ist in dieser Nacht eigentlich nicht mehr zu denken. Mama schläft unruhig sagt sie. Ich allerdings falle gegen 23 Uhr quasi ins Koma und wache am frühen Montagmorgen gegen 4 Uhr mit einem riesigen Schreck auf, der mir durch die ganzen Glieder fährt. Wie konnte ich nur so tief schlafen? Unfassbar. Ab jetzt läuft allerdings die Denkmaschine heiß und gegen 6:30 Uhr zieht es mich dann auch aus dem Bett.

Erstmal Entwarnung

Wir schreiben Montag, den 7. Dezember 2020. Das Heim hat in der Nacht nicht angerufen. Ich nehme an, dann geht es meinem Paps soweit gut. Am Morgen telefoniere ich mit der Wohnbereichsleiterin. Sein Coronatest ist negativ. Mir fällt ein Stein vom Herz. Den Plumps muss man bis ans andere Ende der Welt hören können. Allerdings hat sich sein Dekubitus am Steiß wieder verschlechtert. Deshalb hat er wohl starke Schmerzen und die haben offensichtlich zu dem Zwischenfall mit Fieber und Sauerstoffmangel am Sonntagabend geführt. Deshalb bekommt er jetzt ein Morphium-Pflaster und sollte weniger im Rollstuhl sitzen, denn im Rollstuhl ist die Sitzhaltung trotz Anti-Dekubitus-Sitzkissen für die Wunde am Steiß sehr ungünstig. Ein paar Tage später wird dann sein Dekubitus noch einmal behandelt, abgestorbenes Gewebe vom Hausarzt erneut abgetragen. Dabei wird deutlich, der Dekubitus hat mittlerweile fast den Knochen erreicht. Das müssen unsagbare Schmerzen sein.

Hinzukommen Probleme bei der täglichen Pflege im Zusammenhang mit seiner Inkontinenz. Näher möchte ich aus Respekt vor meinem Paps nicht auf dieses Thema eingehen. Es sei hier nur in aller Kürze erwähnt, auch um den Blick für all diejenigen zu schärfen, auf die diese Zeit noch zukommen wird. Egal ob als Angehöriger oder Betroffener, man muss sich im Klaren sein, dass diese Zeit im Zusammenhang mit Alzheimer oder einer anderen Demenzform auf jeden Fall kommen wird. Es sei denn, man stirbt in einem frühen Stadium der Krankheit.

Du kannst mehr, als du gemeinhin von dir denkst

Ich möchte aber auch sagen, dass bei all der Scham, die man im Vorfeld vielleicht hat. Es ist auszuhalten. Gut, hier kann ich nur für mich aus der Perspektive einer Angehörigen sprechen. Aber genau so selbstverständlich wie ich als Tochter in die Situation gerutscht bin, meinen kranken Vater zu waschen. Genauso selbstverständlich und lebensnah ist auch diese Situation für mich.

Mir tut es im Herzen weh, dass mein Vater aufgrund des Dekubitus und auch der schwierigen Position – am Steiß – Schmerzen leiden muss. Aber ich als Angehörige halte die Konfrontation damit (und mit allem was dazu gehört) ganz gut aus. Ich versuche und kann da auch in alle Richtungen agieren, um meinem Vater all die Unterstützung zu geben, die er von mir benötigt. Das bedeutet nicht, dass ich die Wunden reinige oder verbinde. Das macht das Pflegepersonal im Heim. Es gibt aber so viel Fragen rund um die Versorgung, die geklärt werden müssen. Und da bin ich mit klarem Verstand immer am Ball, denn bei diesem – wie auch bei vielen anderen Themen rund um Alzheimer – brauchst du als Angehöriger, neben ganz viel Emotion, Empathie und Verständnis auch ganz viel Ruhe und Verstand, um die hoffentlich richtigen Entscheidungen zu treffen.

Was ist richtig, was ist falsch?

Allerdings bleiben die Selbstzweifel nicht aus und die fressen sich bisweilen tief in deine Seele. Immer wieder drehen sich meine Gedanken im Kreis. Mache ich all das richtig, nicht für mich, sondern richtig für meinen Paps? Was kann ich mehr tun? Hätte ich dieses oder jenes anders entscheiden sollen oder sogar müssen? Zum Glück finde ich aus diesem Gedankenstrudel immer wieder zurück auf meinen, auf unseren Weg und fühle mich genau richtig dort. Richtig im Sinne von „unter diesen Umständen richtig“. Wirklich richtig für mein Herz wäre ein gesunder Vater, so wie er es vor sieben oder acht Jahren noch war. Mit dem ich lachen, diskutieren, politisieren, wandern, in Urlaub fahren, Weihnachten feiern, einfach gesund und munter leben kann. Aber dieses Richtig gibt es für uns nicht mehr. Also nehme ich das andere und bin zufrieden damit.

Trotzdem bin ich erschöpft. Erschöpft nach all den Jahren mit der Krankheit, erschöpft nach diesen aufreibenden vergangenen Monaten und erschöpft bei all den Sorgen, die dieses Corona-Virus mit sich bringt. So war ich, obwohl ich quasi täglich irgendetwas für meinen Vater organisiere oder mache, in den vergangenen Wochen sehr wenig bei ihm. Die Besuchszeiten sind eingeschränkt. Mama hat bei den Besuchen Vorrang – selbstverständlich. Aber der Hauptgrund ist tatsächlich, dass mich die Angst davor, meinen Paps anzustecken, geradezu lähmt. Dabei arbeite ich in Home-Office und hatte in letzte zeit – außer die besagten Arzttermine und einmal die Woche einkaufen – quasi keinen Kontakt zu niemandem.

Auf der Suche nach Nähe

Gestern war ich kurz bei ihm. Wir haben ihm einen Weihnachtsbaum vorbeigebracht und in den Garten vor seinem Zimmer gestellt. Er mochte es schon immer, wenn es so schön leuchtet in der Weihnachtszeit. Jetzt hat er sein eigenes kleines Bäumchen vor dem Zimmer. Meine Mama war zur gleichen Zeit mit meinem Paps draußen spazieren, da konnte ich ihn kurz sehen. Ich war ehrlich gesagt sehr erschrocken. Ich hatte das Gefühl ich seh den Tod in seinem Gesicht. Auf den zweiten Blick war er dann wieder der Alte, hat uns freudig angeschaut und auch sein leuchtendes Bäumchen.

Allerdings wurde mir schnell klar, warum ich diesen ersten Eindruck hatte. Alzheimer nimmt den Menschen alles, Stück für Stück. Auch die Gesichtszüge, die Möglichkeit der veränderten Mimik. Alles wird botoxmäßig glattgebügelt. Und bei meinen Vater passiert in dieser Hinsicht gerade einiges. Es ist still um ihn geworden. Umso wichtiger werden in dieser Zeit die Berührungen. Darüber kommen wir wieder ins Gespräch – auch ohne Worte. Doch leider ist selbst das, bedingt durch Corona, aktuell nur sehr eingeschränkt möglich. Versuchen wir trotzdem unser Bestes, um in Kontakt zu bleiben. Und wenn ich länger bei ihm bin, dann merke ich nach wie vor deutlich, dass er mich, meine Stimme, meine wenigen Berührungen oder vielleicht auch nur meine Emotion erkennen und auffangen kann. Das ist doch das Wichtigste ?!

Foto: shutterstock.com/Rose-Marie Henriksson

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