68. Weihnachten kommt von innen…

Ja, es ist Weihnachten. Das ist es, was ich mir an diesem Weihnachten in diesem verrückten Jahr immer und immer wieder sagen muss. Mein Mann und ich verbringen Weihnachten schon seit Jahren sehr still und reduziert. Bereits vor Jahren haben wir uns diesem Geschenkestress entzogen. Während Mama und Papa mit meine Schwester, deren Ehemann und Kindern sowie den Gegenschwiegereltern (also den Eltern vom Mann meiner Schwester) den Heiligenabend mit zahlreichen Geschenken verbrachten, haben mein Mann und ich am Heiligenabend vormittags seine Mama besucht und danach den Abend gemeinsam mit den Hunden verbracht, Würstchen (vegetarische) mit Kartoffelsalat verspeist und die Ruhe genossen. Dieses Geschenke-Chaos ist mir schon viele Jahre zuwider.

Am zweiten Weihnachtstag haben sich dann meine Eltern und wir immer getroffen, zusammen gegessen und den Abend verbracht. Auch noch als mein Vater bereits krank war. Da haben wir dann meiner Mutter am Heiligenabend und 1. Weihnachtstag immer geholfen den Papa ausgehfertig zu machen. Der 2. Weihnachtstag gehörte dann uns.

Ein ganz besonderes Weihnachten

Ganz besonders in Erinnerung geblieben ist mir unser letzter gemeinsamer 2. Weihnachtstag im Jahr 2018. Damals hatte mein Vater seinen ersten mehrwöchigen Aufenthalt in der Gerontopsychiatrie bereits hinter sich. Doch leider war es trotz aller Medikamente, die man ihm verabreichte, nach wie vor ein großes Problem, seine Körperpflege ohne aggressives Abwehrverhalten seinerseits über die Bühne zu bringen. Der ambulante Pflegedienst war keine Hilfe und auch die 24-Stunden-Kraft war bereits wieder auf dem Absprung. Also haben mein Mann und ich das in jenem Jahr übernommen und was soll ich sagen: Es wurden die entspanntesten Wochen seit langem. Mein Mann und ich pflegten meinen Paps und es verlief die meiste Zeit ohne Zwischenfälle.

Ganz besonders in Erinnerung bleibt mir der 2. Weihnachtstag 2018. Wie immer saßen wir am Abend zusammen, haben gemeinsam gegessen und Spaß gehabt. Gegen später saßen wir dann noch im Wohnzimmer meiner Eltern. Mein Vater saß mit mir und meinem Mann auf der Couch. Meine Hündig lag mit ihrem Kopf auf seinem Schoß und mein Paps streichelte durch ihr Fell. Das war ganz besonders, dass mein Vater bei uns auf der Couch saß, denn eigentlich hatte er einen eigenen Sessel, in dem er wirklich immer saß, aber in diesen zwei Weihnachtswochen saß er immer öfter bei uns. Das war so schön und harmonisch und bleibt mir daher auch so intensiv in Erinnerung, dass ich alle nicht so schönen Weihnachten danach und im Speziellen dieses Weihnachten in 2020 viel besser verdauen kann, weil ich eben diese schöne Weihnachtsmomente in 2018 hatte, die mir so viel gegeben haben…

Am 11. Februar 2019 brachten wir ihn dann doch wieder in die Gerontopsychiatrie, weil wir als Familie die Situation mit dieser scheiß Alzheimer-Krankheit trotzt der schönen Weihnachtsmomente nicht mehr gemeinsam stemmen könnte. Der 11. Februar 2019 bleibt mir ewig in Erinnerung, weil ich an diesem Tag bereits wusste, dass mein Paps nie mehr nachhause kommen würde. Nach seinem Aufenthalt in der Gerontopsychiatrie, die mit das schlimmste war, was ich je in meinem Leben erlebte, zog er direkt in ein Pflegeheim, in dem er heuer bereits sein 2. Weihnachtsfest erlebt.

Das 2. Weihnachten im Seniorenheim

Dieses Weihnachtsfest in diesem anstrengenden Corona-Jahr verbringt mein Vater also zum 2. Mal nicht zuhause, sondern im Heim. Mein Mann, die Hunde und ich sind ebenfalls allein zuhause, wie immer und doch ist es so anders. Diese Jahr im Mai ist meine Schwiegermutter gestorben. Also fällt der Vormittagsbesuch weg. Am Nachmittag bin ich dann noch mit meiner Mutter bei meinem Paps im Heim – natürlich verkleidet mit Maske. Mein Mann kann nicht mit – es dürfen maximal 2 Besucher rein. Noch liegt mein Paps im Bett, wegen seines schweren Dekubitus. Doch er ist wach und spricht mit uns. Und sein Hand halten, das ist erlaubt. Also halte ich sie. Weihnachtlich ist mir allerdings so gar nicht. Daran kann auch die Weihnachtsmusik nichts ändern, die ich meinem Vater mitgebracht hatte. Es will einfach keine festliche Stimmung aufkommen. Ich habe auch zum ersten Mal den Eindruck, mein Vater erkennt mich überhaupt nicht. Erst als eine Pflegkraft hereinkommt und wir ein bisschen miteinander reden, quatscht mein Vater plötzlich lauthals mit. Keiner versteht, was er sagt, aber das ist egal, die Stimmung steigt und wir haben noch eine Weile eine entspannte Kommunikation ohne Sinn (vermeintlich), aber doch mit so viel Nähe, wie sie bei manchen sinnvollen Gesprächen unter Gesunden nicht entstehen kann. Nach einer Stunde müssen wir coronabedingt wieder gehen. Die Besuchszeiten sind auf maximal 1 Stunde pro Tag begrenzt. Das ist noch viel, in anderen Pflegeheimen sind die Regeln viel strenger. Also sind wir dankbar, winken Papa noch einmal zu bevor wir gehen. Er allerdings ist bereits wieder in seine Welt abgetaucht…

Papa, weißt du, dass heute Weihnachten ist?

Ich frage mich, wie es ihm wohl gehen mag. Hat er mich tatsächlich nicht erkannt?

…Ich fühle mich wie das kleine Mädchen mit der Laterne im Schnee, das vor dem großen, alten Haus steht und nicht weiß ob es eintreten darf…

Oder hat er mich nur mit großen Augen angeschaut, weil er sich freute, dass ich nach so langer Zeit mal wieder bei ihm war? Im Sommer besuchte ich ihn ein bis zweimal die Woche. Aktuelle höchstens einmal alle 14 Tage. Zuletzt war ich 10 Tage in Selbstquarantäne, damit ich an Weihnachten auf jeden Fall coronafrei bin und ohne Angst meinen Vater besuchen kann. Was also denkt er, was empfindet er? Ist ihm – wenn auch nur in kurzen Momenten – klar, dass gerade Weihnachten ist? Meine Weihnachtslieder-Playlist scheint in offensichtlich eher zu stressen. Er knirscht ohne Unterhalt mit den Zähnen. Oder hat er Schmerzen? Wegen seines starken Dekubitus bekommt er aktuell Morphium-Pflaster. Das spricht ja wohl für sich. Doch als ich dann seine Hand halte, beginnt er damit sie zu schütteln und ich schüttle mit, schnell haben wir unseren gemeinsamen Rhythmus gefunden und ich habe den Eindruck, ja jetzt, für diesen Moment sind wir wirklich miteinander verbunden und verstehen uns. Und er lächelt mich an…

Unser Weihnachts-Salat

Das Jahr zuvor – sein 1. Weihnachten im Heim haben mein Mann und ich meinen Vater auch am Heiligenabend besucht, haben ihm unseren selbstgemachten Fleischsalat (eine Familientradition zu Weihnachten) mitgebracht und er hat ihn mit Appetit verspeist. In diesem Jahr ist es nicht möglich, dass wir Essen ins Heim bringen – Corona sei Dank. Doch so traurig sich das auch alles anhört und so sehr mir gerade die Tränen über die Wangen kullern. Wir hatten dieses letzte schöne Weihnachten 2018 zuhause. Diese zwei Wochen, in denen mein Mann und ich nicht arbeiteten und stattdessen ganz für meinen Paps da waren. Diese Zeit hat mir so viel gegeben und ich bin so dankbar dafür, dass wir diese Möglichkeit noch hatten. Deshalb kann ich dieses stille, so ganz und gar nicht weihnachtliche Weihnachten 2020 auch umso besser aushalten.

Wenn mein Paps noch eine Weile lebt, was wir alle nicht wissen, es aber inständig hoffen, dann werde ich dafür sorgen, dass er seinen Weihnachtssalat noch bekommt, sobald er geimpft ist, sobald wir wieder Essen ins Heim bringen dürfen. Dann darf er den Weihnachtsgenuss noch einmal erleben und es ist dabei völlig egal ob null, zehn oder 25 Grad Außentemperatur herrschen. Wir machen uns dann das Weihnachtsgefühl selbst, unabhängig von der tatsächlichen Jahreszeit. Mein Paps hat Alzheimer, für ihn spielt die Welt eh schon verrückt, also machen wir einfach mit.

Und wenn wir das alles nicht mehr schaffen, wenn seine Kraft früher zu Ende ist, dann lassen wir ihn schweren Herzens ziehen und sind doch getragen von all den schönen Weihnachtserinnerungen und diesem einen ganz besondere Weihnachten im Jahr 2018, mit dieser ganz besonderen Nähe und auch getragen von all den vielen schönen Weihnachten, all die vielen Jahre zuvor ? .

Bild von Comfreak auf Pixabay

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