60. Terrassengeschichte #3: der Wunsch nach Nähe

„Kommen Sie ruhig näher an ihn ran. Wenn Sie Ihren Mundschutz tragen, dürfen Sie Ihren Vater auch mal wieder berühren.“ Ich erstarre förmlich bei den Worten der Pflegekraft. „Im Ernst?“ mehr kann ich dazu nicht sagen, gehe zu meinem Vater, stelle mich neben ihn, den Oberkörper wende ich irgendwie seltsam verdreht von ihm weg, so als wolle ich meinen Atem von ihm wegleiten und streichle ihm unbeholfen, fast mechanisch übers Schulterblatt. Und auch er schaut mich irgendwie seltsam, verstört an. Irgendetwas stimmt hier nicht.

Verrückt. Ja, es ist verrückt, was dieses Virus aus uns macht. Ich darf offiziell etwas näher ran, darf ihn berühren und kann es nicht. Dabei möchte ich es doch so gern. Was dabei herauskommt ist ein verunglückter Versuch von Nähe, der uns beide eher verstört, als dass es uns guttut. Okay, einmal schütteln und nochmal von vorn. Doch zunächst trete ich wieder zwei Meter zurück und bringe mich – oder eigentlich ihn – in Sicherheitsabstand. Gut, ich bin übervorsichtig und überängstlich. Wer mich kennt, weiß das. Ich weiß das. Wie sehr mich diese Situation allerdings überfordert. Damit hätte selbst ich nicht gerechnet.

Abstand bitte

Es ist Sonntag. Wir besuchen meinen Vater. Das Wetter ist schön. Schön genug, um uns auf der Terrasse zu treffen. Nun steh ich da und weiß nicht wie umgehen mit der Situation. Ich bleibe tatsächlich lieber auf Abstand. Und kann es selbst kaum glauben…

Beim nächsten Besuch auf seiner Terrasse geht es schon etwas besser. Dieses Mal sind mein Mann und meine beiden Hunde dabei. Die wuscheligen Vierbeiner lockern die Situation auf und auch ich bin mittlerweile etwas entspannter im Umgang mit der neugefundenen Nähe. Ich gehe neben Papa in die Hocke und es entstehen wieder gemeinsame Bilder. Ich direkt neben Papa, mit der Hand auf seinem Schulterblatt. Ein entspanntes Lächeln ist dabei im Gesicht meines Paps zu erkennen und auch mein Gesichtsausdruck – obwohl hinter der Maske versteckt – entspannt sich sichtlich.

Neugefundene Nähe

Wir beginnen mit dieser neugefundenen Nähe umzugehen. Und es fühlt sich gut an. Mama darf wieder mit ihm spazieren gehen. Wie schön. Das tut beiden gut. Obwohl er wirklich beschwerlich ist, Papa im Rollstuhl das bergige Gelände um sein Seniorenheim herum, hinauf und hinunter zu schieben. Zwischendurch wird auf einem Bänkchen eine Pause eingelegt und beide schauen sich die Gegend an. Ja, man kann sagen, es kehrt wieder so etwas wie Normalität ein. Auch wenn wir alle nach wie vor akribisch darauf achten, Papa keinesfalls zu gefährden. Im Ergebnis bedeutet das, dass wir quasi dauerhaft die Hände desinfizieren. Wenn wir in seiner Nähe sind, achten wir darauf, trotz Maske im Gesicht nicht zu viel zu sprechen. Dann legen wir ihm lieber mal eine Hand aufs Schulterblatt, streicheln ihm über den Rücken, massieren seine Waden oder trainieren seine linke Hand.

Die Krankheit nimmt ihren Lauf

Ja, diese linke Hand, der ganze Arm … still und heimlich wurden und werden Arm und Hand immer unbeweglicher. Papa kann den Arm kaum noch heben und auch die Finger verkrampfen immer mehr zur Faust. Sein linkes Bein hat ebenfalls solche seltsamen Anwandlungen. Solange er im Rollstuhl sitzt, ist es kaum zu sehen, zu erahnen vielleicht. Aber wenn er im Bett liegt, schlägt einem die Wahrheit hart ins Gesicht. Sein linkes Bein ist mittlerweile derart verkrampft, dass er es nur noch selten bis überhaupt nicht mehr ausstrecken kann. Und uns allen wird klar und deutlich gezeigt, der Alzheimer schreitet voran, die Krankheit nimmt ihren Lauf.

Es tut unglaublich weh, ihn so zu sehen. Und wenn ich in einer ruhigen Minute darüber nachdenke, überkommt mich die Angst. Zeigt dieser Zustand doch, wohin die Lebensreise von meinem Paps mit großen Schritten geht. Man will das nicht wahrhaben, versucht die schönen Momente zu genießen. Das ist ja auch gut so. Und trotzdem schlägt einem die Tatsache immer wieder hart ins Gesicht. Meinem Papa sind vor gut vier Jahren schon Step by Step die Wörter abhandengekommen, seit gut zwei Jahren spricht er fast gar nicht mehr, seit einem Jahr sitzt er im Rollstuhl, seit ein paar Monaten isst er passierte Kost… Ich weiß, das Ende ist nah und dennoch sitzen wir hier in der Sonne, auf seiner Terrasse und genießen die gemeinsame Zeit … wer weiß, wie viel uns davon noch bleibt. Andersrum betrachtet, wissen wir gesunden Menschen das ja auch nicht. Für jeden von uns kann es von einem zum anderen Moment vorbei sein. Vielleicht ist in diesem Zusammenhang die Krankheit Alzheimer auch ein Segen. Erkennt man doch dadurch einmal mehr, wie kostbar gemeinsam Moment im Leben sind.

Lass dich nicht herunterziehen!

Und so sitze ich heute hier in meinem Büro. Sollte eigentlich arbeiten, was ich auch gleich wieder tue. Muss mir nun aber doch erst mal diese ganzen Gefühle von der Seele schreiben. Freue mich gleichzeitig auch auf meinen nächsten Besuch bei Paps, wobei ich am liebsten direkt los möchte. Doch es reicht mir heute nicht mehr. Die Arbeit muss auch getan werden, mein Leben findet ebenfalls statt.

In meinem tiefsten Innern würde ich dennoch alles am liebsten stehen und liegen lassen und direkt zu Papa gehen. Vielleicht holt mich dieses Gefühl, nicht genug getan zu haben und nicht genügend oft bei ihm gewesen zu sein, irgendwann einmal ein. Irgendwann, wenn er nicht mehr da ist, denn jetzt ist er ja noch da und ich kann auch morgen zu ihm gehen. Das kann ich, wenn alles gut läuft, wenn er morgen auch noch da ist. Doch was ist, wenn er morgen nicht mehr da ist? Ich gebe zu, das treibt mich um. Da kann ich nicht aus meiner Haut. Dieses Ende, immer auf Sicht, es erfüllt mich mit Angst, drückt mir aufs Gemüt, wenn ich es zulasse. Doch dazu bin ich nicht bereit. Soll nicht heißten, dass ich dieses Gefühl wegdrücke. Ich beschäftige mich schon damit, setze mich damit auseinander, aber ich lasse nicht zu, dass es mich in die Tiefe zieht.

Was kostet die Zeit?

Wie es meinem Paps wohl damit geht? Immer wieder hebt er seine Hand und winkt mich zu ihm herüber. Auch er ist auf der Suche nach Nähe, ganz offensichtlich und ich gehe nun wieder zu ihm hinüber. Unsicher noch, ja. Das werde ich wohl, solange Corona wie ein Damoklesschwert über uns schwebt, auch bleiben. Aber ich gehe hinüber und schenke ihm diese Nähe. Er lacht. Und auch ich lache bis ganz tief in mein Herz hinein. In diesem Moment weiß ich, es geht ihm gut.

Doch wie geht es ihm die vielen Stunden, in denen wir nicht bei ihm sind? Eine quälende Frage, die mich umtreibt und die immer und immer wieder meine Gedanken bestimmt. Dann kommt eine Pflegekraft zu uns auf seine Terrasse, sie lacht ihn an und er lacht zurück. Mit einem Mal sind all meine Zweifel und dunklen Gedanken wie weggewischt, dieses Lächeln im Gesicht meines Paps nimmt alle Zweifel mit sich mit. Ihm geht es gut, das ist zu sehen. Vielleicht vermisst er uns zwischendurch. Ganz bestimmt tut er das in einem klaren Moment. Doch mit diesem einen Moment verschwindet dieses Vermissen wohl wieder im Vergessen. Das ist das einzig Gute an dieser Krankheit.

Und dennoch wäre ich so gerne viel häufiger bei ihm, viel näher an ihm dran, hätte ihn mehr in meinem Leben und wäre gerne mehr in seinem Leben. Wie oft vermisse ich seinen Rat, seine aufmunternden Worte. Dann, wenn ich im Gewusel des Alltags mal wieder den Überblick verloren habe, wünsche ich mir, dass er mir dabei hilft, meine Gedanken zu sortieren. Wie früher. Doch diese Zeiten sind vorbei. So schleicht sich ab und an die Frage bei mir ein … „Was kostet die Zeit?“ und mit ihr der Entschluss „Ich kaufe sie!“…

Foto: Foto: shuttestock.com/ asiandelight

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