71. Was kostet die Zeit?

Corona-Quarantäne-Tag 14. Es ist vorbei. Seit heute dürfen wir meinen Paps wieder besuchen. Zwischenzeitlich sind wir alle, Mama, mein Mann und ich das erste Mal gegen Corona geimpft. Man könnte sagen: Wir haben die Zeit gut genutzt. Gleichzeitig ist aber auch wieder wertvolle Zeit verstrichen.

Zeit.

Wie ein Damokles-Schwert kreist sie über uns. Meistens haben wir zu wenig davon. Selten zu viel. An dem Tag, als es hieß, dass wieder Corona im Pflegeheim aufgetreten ist und alle Bewohner 14 Tage in Quarantäne müssen. 14 Tage keine Besuche. 14 Tage Papa nicht sehen. Da schien uns das alles viel zu viel Zeit … und schwupp … sind die 14 Tage vorbei.

Irgendwie habe ich manchmal den Eindruck, wir verlieren vollkommen das Gefühl dafür. Zeit. Was ist Zeit? Kann man die kaufen? Und wenn ja, was kostet sie? Was für eine verlockende Vorstellung: Zeit kaufen. Doch wenn ich es mir recht überlege. Könnten wir uns Zeit wirklich kaufen, dann würden wir das wahrscheinlich, ohne zu überlegen, tun. Womöglich würden wir dabei aber auch die Wertschätzung ihr gegenüber verlieren? Sie wäre ja immer im Sortiment. Was wäre die Zeit dann noch wert? Also nicht preislich, sondern qualitativ. So ist es doch viel besser, denn Zeit ist eine kostbare Ressource und da sie für uns Menschen endlich ist, sollten wir sorgsam damit umgehen.

Froh sein ist besser

Und da sind sie nun also verstrichen, weitere 14 Tage kostbare Zeit, in der wir meinen Paps nicht gesehen haben. Irgendwie macht mich das traurig und doch wehre ich mich gegen dieses Gefühl. Sollte ich nicht vielmehr froh darüber sein, dass die Zeit verstrichen ist, ohne dass sich mein Paps mit Corona angesteckt hat, ohne dass im Heim ein größerer Ausbruch stattgefunden hat. Und irgendwie finde ich das besser. Ich finde es besser, froh zu sein. Froh darüber, dass die Dinge sich doch wieder zum Guten gewendet haben. Dabei stelle ich fest, dieses froh sein, vielleicht ist es auch ein zufrieden sein, das fällt mir nicht schwer. Nein, es kommt ganz leicht aus mir heraus. Ja, ich freue mich wirklich, freue mich, dass uns noch etwas gemeinsame Zeit geschenkt wurde.

Ich blicke nicht zurück, um zu ergründen, was wir vielleicht verpasst haben. Ich blicke nach vorn, ins Hier und Jetzt und entdecke viele schönen Dinge, die wir noch erleben dürfen. Ich freue mich auf den Frühling und den Sommer, die sich beide im Übrigen auch ganz schön Zeit lassen, um endlich aus ihren Löchern zu kriechen, aber so what. Irgendwann biegen sie schon um die Ecke.

Lebe im Moment

Dann frage ich mich: Was bedeutet Zeit eigentlich für meinen Papa? Sind die 14 Tage auch gefühlte 14 Tage für ihn? Ich glaube nicht. Das ist vielleicht ein Segen dieser Krankheit. Alzheimer trägt einen quasi durch die Zeit. Was ist gestern, was ist morgen? In diesen Dimensionen denkt und fühlt der Mensch mit Alzheimer nicht mehr – zumindest dann, wenn die Krankheit bereits so weit fortgeschritten ist wie bei meinem Paps. Im Moment leben, dass ist es, was uns diese Krankheit lehrt.

Kein Blick zurück, nur nach vorn. Sich auf den Moment einlassen. Wenn ich bei meinem Paps bin, dann bin ich nur bei ihm. Der Stress des Alltags bleibt draußen. Meistens gelingt mir das ganz gut, nicht immer, aber fast immer. Und dabei muss ich mich gar nicht anstrengen. Ich bin einfach da. Er ist da. Und das ist genug.

Ich weiß unsere Zeit ist begrenzt und doch möchte und werde ich nicht hadern. Natürlich bin ich manchmal versucht, irgendwo eine Zeit-Angebot zu finden. Und wenn mir eines über den Weg laufen würde, würde ich eventuell sogar zuschlagen. So zwischendurch mal ein bisschen Zeit rausschlagen. Das wäre schon nett. Doch dann sitze ich da wieder bei meinem Paps im Heim, singe mit ihm unsere Lieblingslieder oder laufe mit ihm durch den Garten und wir genießen gemeinsam das schöne Wetter, beobachten die Leute um uns herum oder blicken einfach nur in die Landschaft, lauschen dem Zirpen der Grillen und vergessen darüber die Zeit…

Paps, morgen komm ich dich wieder besuchen. Ich freu mich auf dich und unsere gemeinsame Zeit ?.

Foto: Bild von obpia30 auf Pixabay.

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