63. Luftleerer Raum

Wie gelähmt bin ich. Gelähmt in meinem Handeln, gelähmt in meinen Gedanken, gelähmt in meinen Gefühlen. Noch bevor ich mich nach deinem dramatischen Krankenhausaufenthalt wieder berappeln konnte, bist du erneut im Krankenhaus und ich stehe da und weiß nicht weiter.

Die vergangenen Tage im Heim waren ein ewiges Auf und Ab. Die Dysphagie schlich sich in dein, in unser Leben. Schluckbeschwerden. Nach dem Krankenhausaufenthalt, dem Nierenversagen, der Hypernatriämie fällt dir das Schlucken immer schwerer. Nein, eigentlich kannst du noch ganz gut schlucken, du vergisst es nur zu tun. Die Getränke oder das Essen bleiben lange im Mund, bis dir dann irgendwann wieder einfällt, wie es geht. Das Schlucken.

Nur eine Antwort noch

Bei meinem letzten Besuch bei dir, ging es ganz gut. Es war ohnehin ein guter Tag. Ein Samstag. Wir haben viel zusammen gelacht. Ich habe mit dir darüber gesprochen, dass deine Zeit im Krankenhaus eine schwere und auch eine gefährliche Zeit war, dass wir um dein Leben gebangt haben. Ich habe auch mit dir darüber gesprochen, dass es im Moment sehr schwer ist, dass du sehr krank bist und wir gut überlegen müssen, was wir tun. Ich habe dir gesagt, wie sehr ich es mir wünschen würde, noch einmal eine Antwort zu bekommen, eine Antwort auf die Frage: Wie weit sollen wir mit den medizinischen Möglichkeiten für dich gehen.

Auf meine Fragen hast du ganz fest meine Hand gedrückt. Als wolltest du mir sagen, du weißt es doch. Tu ich das? Alles verschwimmt vor mir. Wie weit dürfen wir gehen? Wann hören wir auf. Ich hab dir am Samstag zum wiederholten mal versprochen, dass ich mich um dich und um alles andere auch kümmern werde. Mach dir keine Sorgen mehr. Die Sorgen mach ich mir jetzt für dich, dann hast du es hoffentlich leichter. Da fällt mir dieser eine Song auf deiner Playlist ein, von Peter Alexander „Ich zähle täglich meine Sorgen“ … und es treibt mir die Tränen ins Gesicht.

Meine Welt steht Kopf

Dann kam der Montag, ein Abszess, eine Fahrt ins Krankenhaus. Nach der Behandlung wieder zurück ins Heim. Am Dienstag kommt die Hausärztin. Blutabnahme. Die Werte unterirdisch. Das bedeutet für dich – wieder zurück in die Klinik. Ich begreife kaum was passiert. Mama begleitet dich an beiden Tagen. Es darf wegen Corona nur eine Begleitperson mit. Und das ist natürlich deine Frau. Es zerreißt mit fast das Herz. Wieder einmal. Was man doch alles aushalten kann.

Bis tief in die Nacht blieb sie bei dir. Hält deine Hand, als man dir eine Bluttransfusion anlegt. Dann heute Morgen der Anruf deiner behandelnden Ärztin. Die Nacht verlief ruhig und es geht dir den Umständen entsprechend gut, sagt sie, aber das Schlucken, das Schlucken ist das leidige Problem. Du nimmst das Essen und auch das Trinken gerne an. Doch dann geht es nicht weiter. Es bleibt lange im Mund. Heute Morgen hast du dich zu allem Überfluss dann auch noch jämmerlich verschluckt, erzählt sie weiter. Es wird immer schwieriger, dich mit Nährstoffen zu versorgen. Du bist dünn. Nun gibt es zwei Möglichkeiten, Magensonde (PEG) oder palliative Versorgung. Meine Welt steht Kopf.

(K)eine Magensonde

Wir haben in der Familie schon darüber gesprochen. Künstlich verlängern wollen wir dein Leben nicht. Dir wertvolle Zeit stehlen, aber auch nicht. Vor deinem Nierenversagen hattest du trotz aller Alzheimer-Widrigkeiten noch eine gute Zeit. Wir hatten schöne gemeinsame Stunden bei dir im Heim auf deiner Terrasse. Und auch vergangenen Samstag warst du hellewach hast vieles mitbekommen. Oft mit mir gelacht und deiner Lieblingsmusik gelauscht.

„Nicht die Jahre in unserem Leben zählen, sondern das Leben in unseren Jahren.“

Und da ist noch Leben, noch schönes Leben, schöne Momente in deiner Zeit. Das sehe ich. Außerdem wer bin ich, dir diese Chance zu verwehren. Ist die Magensonde, mit deren Hilfe du wenigsten wieder ordentlich mit Nährstoffen versorgt werden könntest, wirklich eine Chance für dich? Ich weiß es nicht. Doch ich könnte es mir vermutlich nicht verzeihen, wenn wir es nicht wenigstens versucht hätten. Am Ende nehmen uns die Ärzte die Entscheidung ab: Für eine Magensonde sind Schluckbeschwerden aufgrund einer Demenz keine ausreichende Indikation. Hättest du einen Schlaganfall gehabt, wäre das eine Indikation für die Sonde. Für dich aber wird es keine geben.

Wumms. Klare Aussage. Was mach ich jetzt mit meinen Gefühlen. Wirst du nicht mehr ausreichend essen und trinken können, dann bedeutet das … ich mag nicht daran denken … und muss es doch … alles dreht sich um mich … luftleerer Raum.

Hauptsache dir geht es gut

Am Abend wollte Mama dich besuchen. Nachmittags war sie selbst beim Arzt. Doch dort dauert es zu lange, sodass es ihr nicht mehr zu dir reicht. Sie ist am frühen Abend einfach durch. Die vergangenen Tage waren auch für sie anstrengend. Immer an deiner Seite im Krankenhaus, mit Mundschutz im Gesicht und die Corona-Angst im Nacken. Ich kann am Nachmittag auch nicht zu dir, komm hier nicht weg. Also bleibst du heute allein im Krankenhaus. Wie gerne möchte ich dir helfen. Und kann es nicht. Du tust soooo viel für deinen Vater. Hör ich alle sagen. Doch für mich ist es einfach nicht genug.

Beim Gedanken daran, du so allein im Alzheimer-Nirgendwo, rausgerissen aus deiner gewohnten Umgebung, schnürt es mir den Hals zu. Man ist so gefangen in dieser Situation. Als wäre der Lebensweg mit Alzheimer nicht schon kompliziert genug. Jetzt auch noch die Einschränkungen durch Corona. Nur ein Besuch am Tag ist erlaubt und auch von nur einer Person. So sitze ich heute Abend hier zuhause auf meiner Couch, in meinem Zuhause, finde Halt bei meinem Mann und meinen Hunden. Und du dort, allein, krank, hilflos.

Ach Paps. Wenn du noch kannst, dann kämpfe, ich werde dich nach Kräften unterstützen, Und wenn du nicht mehr kannst, lass los. Mach dir keine Gedanken. Ich werde dich verstehen und mich an den schönen Momenten festhalten. Hauptsache dir geht es gut … hier wie dort…

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

4 thoughts on “63. Luftleerer Raum”

  1. Das haben Sie so wunderbar beschrieben. Mein Papa hatte es in ganz jungen Jahren, ich war 16. Das war eine sehr schwere Zeit. Aber mein Papa hatte nie den Humor verloren. Er hat in seiner Krankheit und als die Medikamente ihn noch nicht so beeinflusst haben noch sehr viel gelacht.
    Machen sie es genau so wie sie geschrieben haben. Er wird ihnen irgendwie zeigen ob er noch kämpfen kann oder ob er es nicht mehr möchte.

    1. Vielen Dank Annette, für die lieben Worte. Auch wir lachen noch sehr viel miteinander. Und das obwohl mein Vater schon vor langer Zeit seine Sprache verloren hat…

  2. Das war bei meinem Papa auch so. Es wurden immer weniger Worte, er hat oft am Fenster gestanden wenn es regnete und schüttelte mit dem Kopf und sagte noch Regen Regen Regen. Irgendwann war dann die Sprache komplett weg. Aber trotzdem versteht er Sie Tanja. Man kann ganz ganz viel mit Liebe und Gefühl ausdrücken…

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